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Wir fahren in einem kleinen Motorboot, einem sogenannten Panga, durch die Flussmündung hinaus ins Meer. Die Wellen schnappen in allen Richtungen nach dem kleinen Boot. Der Blick von Garrita, unserem Kapitän ist konzentriert. Er und sein Gehilfe habe beim Anblick der wild schäumenden Passage die Schwimmweste angezogen. Sie haben die Flussmündung genügend oft passiert, um genau zu wissen wo die Felsen wenige Zentimeter unter der Wasseroberfläche lauern, aber auch, um die Unberechenbarkeit der Wellen zu kennen. Immer wieder kommt es hier am Rio Jaqué zu Unfällen. Für die knapp 3'000 Dorfbewohner ist der Fluss aber der einzige Zugang zum Meer und somit zum Rest der Welt; abgesehen von der Gras-Landebahn für Kleinstflugzeuge, die aber längst nicht für alle Bewohner Jaqués eine erschwingliche Möglichkeit ist, das Dorf zu verlassen.
Vorne am Strand brechen die Wellen viel zu hoch, als dass man ein Boot an Land bringen könnte und eine Strassenverbindung gibt es keine. Jaqué ist die letzte grössere Ortschaft an der Pazifikküste Panamas. Bis nach Kolumbien sind es nur noch 38 Kilometer. Und da wollen wir heute hin. Genauer gesagt nach Ardita, die erste Siedlung auf der anderen Seite der Grenze. Zwei, drei Stunden mit dem Motorboot entfernt.
Zum Glück ist das Wetter jetzt im März noch gut, als wir schliesslich genügend Abstand zum Ufer haben, schweben die Wellen fast unbemerkt unter uns vorbei. Garrita und sein Mariniero, der in heiklen Situationen vorne am Bug das Boot lenkt, ziehen ihre Schwimmwesten aus und setzen die Sonnenbrillen auf. „Muy lindo,“ sagen sie und deuten auf die Küste. Ich nicke und bringe das Grinsen während der nächsten Stunden nicht von meinem Gesicht. Es ist diese Art von Schönheit, die bis ins Herz vordringt und mich gleichzeitig zum Lachen und Weinen bringt. Felswände und Hügel bewachsen mit sattgrünem Dschungel ziehen an uns vorbei, Pelikane segeln in wellenartigen Linien über unsere Köpfe, fliegende Fische springen neben uns aus dem Wasser. Nicht das kleinste Zeichen von Zivilisation. Ich kann unserem Kapitän nur zustimmen. Es ist wunderschön hier, im Darièn, der so ganz von der Welt abgeschnitten ist.
Die Grenzregion zwischen Panama und Kolumbien bestehend einzig aus dichtem Dschungel, der sich weit und dicht über Berge und Täler zieht und es unmöglich macht auf dem Landweg von einem ins andere Land zu gelangen. Die Schönheit dieser verlassenen Gegend, die Einfachheit des Lebens fasziniert mich. Dylan, meinen Mann, der hier bereits vor vier Jahren mangels Strassen mit einem selbstgebauten Motorradfloß unterwegs war, sowieso.
Drogenbosse, Mafiaangehörige, Guerillakämpfer. Der Darièn Gap ist Heimat vieler Gestalten, denen man nicht begegnen will. An die Polizeikontrollen haben wir uns bereits vor ein paar Tagen gewohnt, als wir mit dem Auto bis ans Ende der Strasse gefahren sind. Dort wo die Strasse zu einem Strässchen und schliesslich zu einem Fusspfad wird. In Yaviza hatten uns Stacheldrahtzaun und Polizisten empfangen und eine Hotelbesitzerin, die uns warnte. „Every one is a bandito here.“ Lasst die Zimmertüre nie offen und schliesst euch gut ein, hatte sie gesagt und uns eine gute Nacht gewünscht.
Heute morgen nun hatte ich vor unserer Abfahrt aus Jaqué eine SMS an meine Schwester geschickt, darin der Kontakt unserer Gastgeberin im Dorf. „Falls du bis in drei Tagen nichts von uns hörst, weiss Mariella mehr. Wir fahren mit einem Boot nach Kolumbien. Aber mach Dir keine Sorgen.“
Eine SMS, die natürlich Sorgen auslöst. Trotzdem hatte ich mich wohler dabei gefühlt, jemandem von zu Hause über unseren Aufenthaltsort und die Pläne zu informieren. Hier sind nicht viele Ausländer unterwegs, zudem haben wir unsere gesamte Filmausrüstung dabei und sind somit nicht gerade unauffällig.
Mangels Strassen bleibt der Darièn Gap bis heute für alle Überlandreisenden, die mit dem eigenen Fahrzeug unterwegs sind eine Herausforderung. Private Segelschiffe oder ein Cargo Flug sind die Lösung. Da es keine offizielle Fähre gibt und jeder Reisende selbst einen Kapitän samt Schiff suchen muss, welcher ihn und sein Fahrzeug zu transportieren gewillt ist, kam mein Mann, der vor vier Jahren mit seinem Motorrad auf einer Weltreise unterwegs war, in Panama angekommen auf die Idee hier seinen Kindheitstraum zu verwirklichen.
Aufgewachsen als mittelloser Junge am Strand von Sri Lanka hatte er immer davon geträumt einmal ein Bambusfloß zu bauen und von der Armut weg in eine Welt voller Abenteuer zu segeln. Als er nun mehr als 30 Jahre später vor dem Darièn Gap stand, kam ihm der alte Traum wieder in den Sinn und so baute er sich aus aus 10 Ölfässer ein Floß, welches er mit Hilfe seines Motorrades antrieb. Nach vier Wochen Bauzeit stach Dylan von Panama Stadt aus in See, ohne je vorher mit einem Boot auf dem Meer gewesen zu sein und ohne zu wissen was ihn im Darièn alles erwarten würde. Es folgten sechs intensive Wochen auf dem Pazifik. „Die härteste aber gleichzeitig schönste Zeit meines Lebens!“ Eine Erfahrung, die ihn auch wegen den Begegnungen mit den Menschen hier verändert hat. „Diese Menschen haben so wenig, leben mit der ständigen Gefahr des wilden Meeres, der Guerillakämpfer und was weiss ich. Trotzdem haben sie eine unglaubliche Lebensfreude und eine Offenheit, von der wir uns ein Stück abschneiden können.“
Nun will Dylan mir diese Gegend zeigen, gleichzeitig haben wir eine neue Idee: Wir wollen die Menschen aufsuchen, die ihm auf seiner Odyssee geholfen und unterstütz haben und aus dem gesammelten Filmmaterial einen Dokumentarfilm realisieren.
„La frontera!“ schreit Garrita über den Motorenlärm hinweg und zeigt mit dem Arm auf eine kleine Markierung am Felsen. Die Grenze ist unspektakulär, Polizisten oder Soldaten hat es hier keine. Andere Boote auch nicht. Nur wir, der Dschungel, das Meer und die Markierung am Fels. Es fühlt sich unreal an, aber wir sind in Kolumbien!
Wie viele Drogen hier in umgekehrte Richtung jährlich die Grenze passieren, weiss niemand so genau. Mariella, die uns in Jaqué beherberg hatte, weiss aber aus eigener Erfahrung, dass der Drogenschmuggel existiert. Neulich hatte sie am Strand ein Plastikfass gefunden. Voller Freude hatte sie es nach Hause geschleppt. Sie wollte es als grossen Pflanzenkübel benutzen – so weitab von der nächsten Stadt, hat alles seinen Nutzen.
In ihrem Garten angekommen, hatte sie es geöffnet und vor lauter Schreck gleich wieder geschlossen. Schön säuberlich umwickelte Päckchen voller weisses Pulver seien darin gelegen. Sie war so schnell sie konnte zur Polizeistation gerannt. „Mein Gott! Mit dem Zeugs will ich nichts zu tun haben. Die haben vielleicht Peilsender dran. Ich lebe hier alleine in einem Haus am Strand. Nein, keine Sekunde habe ich darüber nachgedacht wie viel Wert das Kokain haben könnte. Ich wollte es so schnell wie möglich loswerden.“ Während sie erzählt hatte, war die Nervosität von damals zurückgekommen.
Hinter der nächsten Bucht liegt Ardita, werden wir informiert und spähen mit zusammen gekniffenen Augen an Land. „Wie ist es zurück zu sein?“, frage ich meinen Mann und es dauert lange bis ich eine Antwort bekommen. „Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals wieder hier bin. Es ist... ich bin gespannt wer alles noch in dem Dorf ist. Siehst du, es hat nur diese wenigen Häuser. 15 Familien, mehr nicht.“
Ardita hat für Dylan eine spezielle Bedeutung. Es ist der Ort wo er nach einem Sturm mit seinem Motorradfloß strandete und wo er sein Abenteuer vorzeitig abbrechen musste, weil das Motorrad zu grossen Schaden erlitten hatte. Die Dorfbewohner und eine Gruppe vor Ort stationierte Soldaten hatten ihn, den Fremden, den verrückten Motorradkapitän, in der schwierigen Situation mit offenen Armen empfangen.
Vorerst fahren wir an Ardita vorbei, denn wir sind zwar in Kolumbien, aber der Einreisestempel im Pass, der fehlt noch. Erst acht Kilometer weiter, in Jùrado, erwarten uns die kolumbianischen Zollbehörden. Auch hier müssen wir aber zuerst eine schäumende Flussmündung passieren, um überhaupt zur Ortschaft zu gelangen, welche wir von der Küste aus kaum erkennen können.
Mitten auf den Felsen, die den Fluss in zwei Einmündungen aufspaltet, thront die heilige Maria und beobachtet uns mit strengem Blick. Die Schwimmwesten werden ohne Worte angezogen, dann konzentriert sich unser sonst so fröhlicher Kapitän voll und ganz auf den wilden Kuss zwischen Meer und Fluss. Es dauert eine Weile bis er Gas gibt und das kleine Boot zielsicher durch die hohen Wellen fährt. Ich klammere mich etwas fester an die Sitzbank und öffne die Augen erst wieder als das Boot ruhiger wird.
Dann fahren wir entlang des idyllisch anmutenden Flusses ruhig dahin, bis uns hinter einer Kurve eine Polizeikontrolle erwartet. Rostige Maschinengewehre über den Schultern, grimmige Blicke und vom Salzwasser zerfressene Kampfstiefel. Wortlos werden unsere Pässe entgegengenommen und kontrolliert, dann dem Kapitän ein paar Fragen gestellt. Wir sollen unsere Taschen öffnen, deutet dieser uns und wir tun wie geheissen. Schliesslich folgt ein Nicken und ein „Adiòs!“, wir dürfen weiter.
Gerade noch hat üppige Natur das Flussufer gesäumt, nun steht Haus an Haus auf Stelzen auf den Fluss hinaus gebaut. Fischerboote sind angebunden, Schweine rennen herum. Eine Frau wirft gerade einen Korb voller Abfall in den Fluss, weiter oben springen Kinder vom Bootsrand aus kopfvoran ins schmutzige Wasser. Wir ziehen unser Panga an Land, dann folgen wir Garrita über dünne Holzplanken wankend hinauf zum Strässchen. Eine augenlose Puppe liegt neben Scherben im Dreck. Die Schönheit, die Unversehrtheit des Darièn Dschungels, die wir eben noch genossen haben, ist plötzlich weit weg.
Der Zollbeamte ist ein Freund unseres Kapitäns und begrüsst uns herzlich. Eine Weile diskutieren die beiden hin und her und mit Hilfe einer Übersetzer-App verstehen wir schliesslich worum es geht: Eigentlich dürfte er uns nicht den Einreisestempel und gleichzeitig den Ausreisestempel in den Pass drücken. Aber weil wir so nett seien, mache er es jetzt einfach, sagt der Zöllner und ermöglicht uns somit übermorgen direkt aus Ardita wieder zurück nach Panama zu fahren, ohne ein weiteres Mal hier in Jùrado vorbei zu kommen. „Aber es wird eine Weile dauern, ich muss warten bis das Internet funktioniert, um das Programm zu starten.“ Als das Internet die Verbindung endlich aufgebaut hat, macht er sich auf die Suche nach Papier, um ein Formular auszudrucken. Wir sitzen geduldig und klebrig vor Hitze auf den Plastikstühlen und warten.
Wie oft den hier Reisende vorbei kämen, fragen wir den Beamten, als er wieder im Büro auftaucht. Viele, sagt er und fährt fort: „Bis zu acht in einer Woche vielleicht.“ Wir nicken anerkennend. Endlich wird der Stempel zuerst ins Stempelkissen, dann in unsere Pässe gedrückt. Danach das Datum auf den morgigen Tag geändert und das Prozedere wiederholt. Kolumbianische Effizienz.
Wir sind froh, sind wir mit Garrita unterwegs, er kenne Ardita und sei gerade erst letzte Woche hier gewesen, sagt er zu uns, also wir uns wieder ins Boot setzen und vom Fluss zurück ins Meer und in Richtung Norden steuern.
Wir sind gespannt, ob die Menschen in Ardita sich noch an Dylan erinnern werden. Umso näher wir der Bucht kommen, umso grösser wird bei mir die Anspannung und bei Dylan die Vorfreude. „Dort an jener Palme hatte ich mein Floß angebunden. Und dort drüben, ganz am Ende des Strandes waren damals die Soldaten stationiert. Jetzt scheinen keine mehr da zu sein. Ein gutes Zeichen für die Menschen im Dorf.“ Und für uns, denke ich. Die Situation hier scheint sich beruhigt zu haben. In meinem Kopf habe ich nämlich immer noch die Erzählung darüber, wie Dylan miterlebt hatte, warum die Soldaten überhaupt da waren. Eine Gruppe Guerillas hatte das Dorf damals während seiner Anwesenheit angegriffen.
Die farbigen Flecken am Strand werden zu Häuser und umso mehr Details wir sehen, umso mehr erzählt mir Dylan. „Hier unter dem Dach stand mein Zelt, dort ganz links ist die kleine Schule. Das grosse Haus hier gehört dem Dorfoberhaupt. Er hatte das grosse Boot mit dem wir mein Motorrad dann in die nächste Stadt transportiert haben.“
Wir finden eine Lücke zwischen den brechenden Wellen und Garrita fährt das Boot an Land. Menschen sehen wir vom Strand aus keine. Die fünfzehn Häuser wirken verlassen. Erst als wir den Strand hinter uns lassen und zwischen den Cashewbäumen und den orange und pink blühenden Bougainvillea Büschen hindurchgehen, erkennen wir einen alten Mann und seine Frau, die auf der Veranda ihres Haues sitzen.
Sie schauen uns fragend an, als Dylan ohne zu zögern die Treppe hochsteigt und direkt zu ihnen hingeht.
„Weißt du wer ich bin?“ Der alte Mann schüttelt zuerst den Kopf. Dann sagt Dylan was vom balsa, dem Floß und das Gesicht des Mannes hellt sich auf. „Natürlich! Der Mann mit dem Floß!“ Warum bist du zurück? Willst du mit dem Floß weiterfahren?“ Sie lachen herzlich und schütteln Dylan die Hand.
Nach und nach tauchen mehr Leute auf und jeder erinnert sich an den Mann, der damals mit einem Motorrad und 10 Ölfässer bei ihnen gestrandet war.
„Dachtet ihr nicht er sei total verrückt mit einem Motorradfloß übers Meer zu fahren?“
Doch, doch, loco sei er schon. Sie hätten ihren Augen nicht getraut, als sie sahen, mit was für einem Vehikel er hier angekommen war. Als er dann noch erzählte er sei in Panama Stadt los gesegelt, staunten sie noch mehr. Und alle wollten früher oder später wissen warum er diese verrückte Reise denn überhaupt gemacht hatte. Und wie das aventura nach Ardita weitergegangen ist.
Aber, so frag ich mich, ist es nicht auch verrückt, in einem Dorf ohne jegliche Strassenverbindung mitten im Darièn Dschungel zu leben?
Die Wahrnehmung ist ein wunderliches Pflänzchen, sie wächst auf dem Boden unserer individuellen Realität – auch hier im sattgrünen Urwald.
Später bietet uns der alte Mann eine kleine Hütte zum Übernachten an. Wir haben erwartet am Strand zu schlafen und nehmen das Angebot gerne an. Auch wenn die Matratze schmutzig ist und die Ratten davonrennen, als wir die Türe öffnen; vor dem Regen, der in der Nacht der Küste entlang zieht, hält uns das Zimmerchen allemal trocken.
Als die Dämmerung langsam eine Bettdecke über den Pazifik und den Dschungel legt, kommt ein weiteres Boot an Land. Eine schwangere Frau und ihr Mann steigen aus und kommen zwischen den Häuser hindurch auf uns zu. Als der Mann Dylan sieht, macht er grosse Augen und verwirft die Hände. Er erkennt den Floßmann sofort. Die beiden umarmen sich.
Als mein Mann Julio vor vier Jahren zum ersten Mal traf, war er gerade erst mit Frau und Kindern in Ardita angekommen. Sie waren zuvor 14 Tage durch den Dschungel marschiert, um der andauernden Gewalt, die zwei Gangs in ihrer Heimat verbreiteten, zu entkommen. Im Gepäck nichts ausser dem Mut neu anzufangen.
Die waren durch Sumpf und Dickicht vorgedrungen, hatten sich einzig von den Pflanzen im Wald ernährt und in den Flüssen Wasser gefunden. Die Flucht aus der Heimat mit sechs kleinen Kindern war, so anstrengend und gefährlich es erscheint, immer noch die bessere Option gewesen, als sich tagtäglich von der rohen Gewalt zweier Banden drangsalieren zu lassen.
Das erste was er nun zu mir sagt ist: „Er gab mir damals 20 Dollar!“ Und Dylan erklärt, dass er dem Mann nicht anders hatte unterstützen können als mit 20 Dollar —alles was er an Bargeld noch übrig hatte, nachdem er sechs Wochen auf dem Pazifik unterwegs gewesen war. Jetzt will Julio unbedingt, dass wir am nächsten Morgen seine Finca besuchen. Er willl uns zum Frühstück einladen und so zumindest etwas seiner Dankbarkeit, die auch nach all den Jahren noch zu spüren ist, zurückgeben. Wir nehmen das Angebot gerne an.
Am Abend, als wir müde aber schlaflose nebeneinander im Bett liegen, sagt Dylan, dass keine Begegnung hier ihn glücklicher mache als die mit Julio. „Ich hatte so gehofft ihn wieder zu sehen. Ich bin froh scheint es ihm gut zu gehen. Er hatte damals wirklich nichts.“
Um sieben Uhr in der Früh holt Julio uns ab. Es folgen 20 Minuten Fussmarsch durch den Dschungel. Über mächtige Baumwurzeln, durch Sumpf und Flussbette gehen wir hinter ihm her. Irgendwann kreuzen wir sechs seiner mittlerweile acht Kinder auf dem Weg zur Schule. Jedem tätschelt er liebevoll auf den Kopf und gibt ihm aufmunternde Worte mit. Wir erhalten von den Kindern ein schüchternes Lächeln, bevor sie, mit den Schulbüchern unter dem Arm, barfuss im Wald verschwinden.
Dann plötzlich, hinter einer Flussbiegung ein grosses Holzhaus auf Pfählen, gedeckt mit einem einfachen Palmenblätterdach. Die Hunde begrüssen uns bellend, während die Hühner und Katzen uns nicht beachten und die Schweine sich überglücklich grunzend über den Mais hermachen, der Julio ihnen vorwirft. Als die Tiere versorgt sind, stellt er uns seiner Frau vor, die gemeinsam mit den zwei jüngsten Kindern dabei ist Maiskörner von den Kolben zu lösen. Vor sich den dicken Bauch – in einem Monat gibt es bereits wieder Familienzuwachs.
Um das Haus herum führt Julio uns etwas später über sein Farmland, welches sich die Familie in den letzten Jahren erarbeitet hat. Er zeigt auf Avocados und Papayas und „dort hinten, siehst du sie die Ananas?“ Dann gehen wir an Kochbananen- und Pfeffer-Sträucher vorbei einen schmalen Pfad entlang. Als wir auf einem kleinen Hügel ankommen, sehen wir erst wie gross die Fläche tatsächlich ist. „Ihr habt diese alles selbst gemacht?“, fragen wir mehr als einmal und Julio ist sichtlich stolz. Er hat dem Dschungel ein Stück Land gestohlen und daraus eine kleine Farm gemacht, die es ihm ermöglicht seine Familie zu ernähren und den Kopf gerade so über Wasser zu halten. Sie haben Mais, Papaya, Ananas, Avocados, Kartoffeln, Kochbananen und vieles mehr angebaut. Er muss wie ein Wahnsinniger gearbeitet haben in den letzten Jahren. Wir sind tief beeindruckt. Was seine Familie nicht selbst isst, verkauft er an die Dorfbewohner und kauft mit dem Geld wiederum in ihrem Laden ein was ihnen fehlt.
„Keiner hat mir geholfen. Wir haben alles alleine geschafft. Wir, nur wir!“ Die Zufriedenheit, die in seinen Worten mitschwingt, springt förmlich auf uns über.
Zurück beim Haus erhalten wir einen schwarzen Kaffee und eine frisch gepflückte Papaya gereicht. Es schmeckt nach Feuer und Sonne; das beste Frühstück der gesamten Reise.
Und als wären wir nicht schon über die Willenskraft der beiden gerührt, verschwindet Julios Frau jetzt hinter einem Baumwollvorhang und kommt dann mit einem fast bis zur Unkenntlichkeit zerknitterten Dollarschein in der Hand zurück. Sie reicht ihn Julio und dieser sagt zu Dylan: „Schau, diesen einen Dollar von den 20, die du mir damals gegeben hast, habe ich aufbewahrt, um dich in Erinnerung zu behalten!“
„Wirklich?“ Dylan ist sprachlos als er den nahezu zerbröselnden Schein zwischen zwei Fingern hält. Ich habe einen Kloss Glück im Hals. „Ich hatte nur noch so Kleingeld überall und habe alles was noch da war zusammengesucht, als er mir von ihrer Flucht erzählt hat.“, sagt Dylan zu mir und wir wischen uns beide die Tränen aus den Augen und sind überglücklich den beschwerlichen Weg nach Ardita auf uns genommen zu haben. Einzig jetzt hier zu stehen und zu erfahren, dass Julio, der nie mit der Rückkehr des Floßmannes gerechnet hat, diesen einen, für ihn so wertvollen Dollar, in Erinnerung an den Fremden aufbewahrt hatte, war es wert gewesen das kleine Dorf zu besuchen. Dieser Augenblick er ist unbezahlbar.
Als wir die Sprache endlich wieder finden, fragt Dylan den Mann, der in einem verwaschenen T-Shirt und abgewetzten Hosen vor uns steht: „Bist du glücklich?“
Julio antwortet ohne zu zögern „Si! Muy feliz!“ Sehr glücklich! „Wir hatten nichts, damals als du zum ersten Mal hier warst. Jetzt haben wir alles was wir brauchen.“ Seine Augen strahlen und er verliert kein Wort darüber wie anstrengend die letzten vier Jahre für ihn und seine Familie gewesen sein müssen. Er zeigt uns, hier mitten im Dschungel, abgeschnitten vom Rest der Welt, was es bedeute, wenn wird das Glück im Herzen anstatt auf dem Bankkonto tragen.
Erfahrt mehr über Dylans große Reise:
Antworten
Eine sehr berührende Erzählung, die wieder einmal beweist, dass Empathie die Welt ein bisschen besser und Menschen glücklich macht.
Eine wunderschöne Geschichte.
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