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I. Staller Sattel, 8 Uhr: Aufbruch / Zuversicht
Die Sonne ist bereits die Felswände heruntergeklettert, durch Fichtenwälder hinabgestiegen, am Talgrund angekommen. Der Tag hat sich breitgemacht im Gebirge, strahlend, satt. Nur westseitig kleben noch ein paar Schatten an den Hängen.
Doch der Morgen hat eine leichte Kühle, die Luft eine Feuchtigkeit, ich bin spät dran für das, was ich vorhabe. Vor mir der Hochgall, mächtig und schroff. Die Südwand fällt 800 Meter ab, dann Bergweiden, dann Zirben. Ein Grat zeichnet eine schwarze diagonale Linie durch den Fels. Ich muss weiter nach Antholz Obertal, nach unten ins Tal, ich muss erst noch tiefer. Dort beginnt die Reise dieses Tages, aus den Schatten des Waldes hinauf zum kahlen Gipfel und den ganzen Weg wieder zurück.
Das Auto auf einem Parkplatz abgestellt, den Rucksack geschultert. Leicht ist das Gepäck, denn der Anstieg fordernd und lang. Den Einstieg zum Weg gefunden, das Wanderzeichen erspäht, schon geht es aufwärts. Steile Serpentinen, grobes Wurzelwerk, der Geruch von feuchter Erde. Die Fichten schirmen die Sonne ab, noch.
Was für ein Gefühl es ist, wieder hier zu sein, in den Bergen. Die morgendliche Kühle im Gesicht, der Schweiß im Nacken, die leichte Spannung in den Waden. Wie der Wald duftet nach Harz und Blumen! Wie mir leicht wird ums Herz!
Bergan, bergan, immerzu, ich bin so bereit. Die Augen lesen den Weg wie ein Schriftgelehrter das heilige Wort, gierig und sicher und kenntnisreich; die Füße finden Tritte und Stufen, bestimmt und rasch und sanft, sie huschen über Steine und Stöcke wie junge Gämse. Schon lichtet sich der Wald, rauscht der Bergbach in der Sonne, steigt die Hitze aus den Wiesen. So gehen die ersten Stunden dahin, ein heiteres Spiel ohne Mühen.
Antholzer Tal und Hochgall (Mitte rechts) vom Staller Sattel.
Auf dem Weg zur Antholzer Scharte, Blick zurück ins Antholzer Tal.
Unterhalb der Antholzer Scharte, Blick in Richtung Dolomiten.
II. Antholzer Scharte, 11.30 Uhr: Rast / Präsenz
Die Vegetation hat sich zurückgezogen, ist Geröll und Steinen gewichen. Immer aufwärts geht es durch das Hochtal, nun der letzte steile Aufschwung, und ganz oben – Schnee. Ein alter, gräulicher Rest ist noch nicht geschmolzen unter dieser satten Julisonne, Zeuge eines langvergangenen Winters. Ja, hier auf über 2800 Metern kann es kalt werden, doch heute nur Wärme, Milde, liebliche Luft.
Abschüssige letzte Meter bergan, dann die Scharte. Der Blick fällt ins Hochtal auf der anderen Seite des Gebirgskamms, auf Geröllfelder, Moränen und einen Gletscherbach. Darüber ein nahezu wolkenloser Himmel, blasses Mittagsblau. Zeit für Brot, einen Apfel, Trockenfrüchte und etwas Schokolade. Ein einzelner Wanderer grüßt. Man tauscht sich aus, macht Fotos, doch viel Zeit ist nicht, der Weg ist weit.
Rechts des Tals türmt er sich auf, der Hochgall, der »hohe glänzende Berg«, wie es im Althochdeutschen heißt. Höchster Gipfel der Riesenfernergruppe. In einem nahezu perfekten 45-Grad-Winkel fällt der Nordwestgrat seitlich ab, scharf gezeichnet von der Sonne. Der Gipfelaufbau thront als graue Pyramide über den umliegenden Bergen, die Perspektive macht es, ja tatsächlich: ein Mount Everest in Miniatur.
Der stürmische Rausch des morgendlichen Aufstiegs ist aus mir gewichen, Ratio eingekehrt. Ich rechne und kalkuliere, schätze und prüfe, versuche den Weg vor mir mit meinen Augen in Stundeneinheiten aufzuteilen. Habe ich mir zu viel vorgenommen? Ich muss nun zunächst wieder etwas absteigen. Wann erreiche ich die Furt, ab der es wieder bergan geht, wann das Graue Nöckl, jene Erhebung am Anfang des Gipfelgrats? Heiß brennt die Sonne aufs Gestein, der Tag wartet nicht, wohlan, die Beine sind stark.
Antholzer Scharte.
Hochgall mit Nordwestgrat von der Antholzer Scharte.
III. Hochgall, 15 Uhr: Gipfel / Euphorie
Der Weg hinauf über den Grat zieht sich, erst zum Grauen Nöckl, dann über Drahtseile hinab in eine Senke und fortan wieder nach oben. Links fällt die Wand ab, rechts der steinige Hang. Ein Schneefeld muss gequert werden, abschüssig, auf sorgsamen Sohlen also, die für eine Minute die vergangenen Stunden in Waden und Oberschenkeln vergessen. So muss es sein, sonst wird es gefährlich.
Auf dem Gipfel dann: Erleichterung, Euphorie. Die Sonne hat ihre höchsten Bahnen wieder verlassen. Wolkenflocken über Berggipfeln, das Blau des Himmels. Die Aussicht geht im Norden bis zu den Zillertaler Alpen, weiter rechts zu Venedigergruppe und Glocknergruppe. Im Süden erheben sich die Dolomiten, im Licht und im Schatten, je nach Himmel. Feine Spitzen sind es, wie sorgsam herausgearbeitet mit ruhiger Hand und spitzem Meißel.
Ein Panorama zu allen Seiten; die satten Farben eines Hochsommertages, tannengrün, wiesengrün, felsenbraun, wandgrau, schneeweiß; eine verträumte Collage. Erhebend ist das Gefühl, Grandeur der Berge, Erbauung der Seele über den winzigen Dörfern der Menschen, irgendwo dort unten, wo der Tag schon bald wieder zu schwinden beginnt.
Hochgall-Nordwestgrat vom Grauen Nöckl.
Hochgall-Vorgipfel mit Beginn des Nordwestgrats.
IV. Weggabelung Hochgallhütte, 17.15 Uhr: Abstieg / Zweifel
Der Abstieg vom Grat: mühsam. Ich muss grobe Felsblöcke umklettern, weil ich die genaue Route nicht ausmachen kann, es gibt keine Markierungen. Undurchsichtig scheint mir der Weg nun, ganz anders als zuvor.
Das Gestein ist brüchig. Ein »einziger Schutthaufen« sei der Hochgall, sagt ein Bergführer später. Es ist so. Die Griffe sind vorsichtig, die Augen können das Gelände bergab nicht so gut lesen wie bergauf. So wird die Fortbewegung unendlich langsam. Die Beine müssen die Spannung eines zaghaften Tritts aushalten, vortastend, prüfend. Immer wieder. Es kostet alles ungeheure Kraft, aber es ist der einzig sichere Weg.
Ab dem Grauen Nöckl scheint die Anordnung der Steinmänner, die auf dem Weg zum Gipfel die Route gezeigt haben, unerklärlicherweise seltsam verschoben, gar unsichtbar. Über grobes Blockwerk muss ich hinab, doch welche Richtung einschlagen? Die Tritte sind weit und tief, erschüttern die Gelenke, zermürben die Muskeln.
Nach drei elenden Stunden Abstieg kommt endlich die Furt. Beine wie Säcke voll Mehl, doch voraus bloß der Gegenanstieg zur Scharte. Die Füße lassen sich kaum noch heben, jetzt dringend Schokolade, und Wasser, Wasser, nur immer mehr Wasser, die drei Liter aus dem Rucksack sind längst leer, da ist der Bach.
Ich weiß nicht, ob ich noch weitergehen kann. Rechts führt der Weg zur Hochgallhütte, dort wartet ein Bett für die Nacht, und der Tag verabschiedet sich schon, einsamer Nachmittag im Hochgebirge. Eine Stunde wäre es vielleicht, doch der Pfad zur Hütte führt in ein anderes Tal, weg vom Auto. Keine Ersatzkleidung, keine Zahnbürste. So will ich mich nicht betten, also doch weiter, hinauf zur Scharte, ein Kraftakt.
Dolomiten von der Antholzer Scharte.
V. Antholz Obertal, 21.15 Uhr: Ankommen / Ruhe
Rast in der Antholzer Scharte, die Beine haben sich erstaunlich gut angestellt, ja angepasst, als wüssten sie nun, das ist noch nicht das Ende. Es hat sich nun jene Tür aufgetan, hinter der vieles möglich ist, noch eine Stunde, drei Stunden, fünf. Es scheint plötzlich egal. Die Mühsal wird zum steten Begleiter, das ist in Ordnung.
Die Wolken hängen am Himmel wie abstrakte Plastiken, zackige Dolomiten-Gipfel am Horizont. Wie versöhnlich es ist, dieses warme, seichte, liebevolle Abendlicht. Dort unten in Antholz hat die Nacht bereits damit begonnen, die Wiesen einzunehmen, unaufhaltsam rückt sie vor auf die andere Talseite. Die letzten zweieinhalb Stunden des Weges liegen im Schatten.
Hinab geht es nun wieder, zuerst über steinige Pfade, dann hinein in die Wiesen und schließlich in die immer noch duftenden Zirben. Es sind 1300 Höhenmeter von der Scharte zum Parkplatz, und jeder von ihnen foltert die Beine. Stumpf fühlen sie sich an, seltsam angespannt und doch labil, wie kurz vor dem Wegknicken. Verzweiflung bei jedem Schritt, Unwille, Resignation. Doch kein Obdach gibt es hier.
Als es den Muskeln schließlich widerstrebt, die Schritte des müden Wanderers abzufedern, bleibt nur noch der Trab, ja tatsächlich, ich komme ins Laufen. Es ist so viel angenehmer für die Beine als das Gehen. Die Fichten sind zurück, doch der Atem schwächelt, obschon es bergab geht. Die Anstrengung sitzt jetzt auch in den Lungen. Trockener kalter Schweiß unter der Kleidung, trotz der fünf Liter.
Fast schon finster ist der Wald kurz vor dem Parkplatz, tückisch sind nun die Wurzeln, doch die Füße fliegen, noch ein letztes Mal, in dem Wissen, dass es alsbald vorbei ist. Erschöpfung und Euphorie, die Erinnerung an einen fernen Morgen, letzte Meter. Die Bäume lichten sich, Abendstille im Tal, die nackten Füße im Gras. Ich bin wieder zurück. Tiefe Ruhe.
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Hey Philipp, toller Eintrag mit super Bildern! Fahre diesen Sommer zwar nicht nach Südtirol sondern einfach in den Sommerurlaub Tirol aber ich freue mich jetzt schon riesig! Vielleicht finde ich da in der Nähe ja auch einen Berg den ich hochsteigen kann! 🙂 Mach weiter so! LG Isabella
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