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Wer ist hier eigentlich der Hauptdarsteller? Ich frage mich die ganze Zeit wer in diesem unüberschaubaren Gewühl überhaupt der Hauptdarsteller ist. Ich stehe mitten in einer sich stetig bewegenden Traube aus Schauspielern, Komparsen, Assistenten, Visagisten und hektisch umherlaufenden Verantwortlichen, die laute und für mich unverständliche Befehle durch die Menge schleudern, als seien es Wurfgeschosse, den dröhnenden und ohrenbetäubenden Ansagen durch die blechernen Megaphone, dem Chaos aus Kabeln, Bildschirmen und allerhand Technik, deren Sinn mir Rätsel aufgibt, dem grellen Scheinwerferlicht, das die dunkle Nacht am Strand von Pondicherry in helles Tageslicht taucht, den kitschigen, meterhohen Leuchtdekorationen, wie man sie sich bunter und aufdringlicher kaum vorstellen mag und den hunderten schaulustigen Indern, die aufgeregt starrend, dicht gedrängt und beharrlich schubsend um das nicht eingezäunte Filmset stehen, und sich langsam immer näher pirschen, kaum ist einer der Sicherheitsleute auch nur für eine Sekunde unaufmerksam, und schlürfe einen scharf gewürzten Chai aus einem winzigen Pappbecher.
Mein Blick wandert gerade über den Rand des Pappbechers hinweg, das mir völlig absurd und unorganisiert scheinende Spektakel beobachtend, als plötzlich Unruhe in unsere kleine, verunsicherte Gruppe Ausländer gerät. Ein untersetzter, kleiner, dickbäuchiger Mann, wie wir später herausfinden sollen, der Drehbuchautor, kommt auf uns zugestürmt und brüllt laut und hektisch, der allgemeinen Atmosphäre angemessen: POTION! POTION! Irritiert gucken wir uns um, suchen mit den Augen Hilfe bei unseresgleichen. Zaubertränke?! Ich habe nichts gegen Zaubertränke einzuwenden und würde gerne mal einen probieren. Aber hier? Und jetzt? Unsere Untätigkeit lässt den dicken, kleinen Mann nur noch hektischer, noch lauter brüllen. Nur noch wenige Zentimeter vor unseren Gesichtern stehend setzt er noch mal mit seiner mächtigen Stimme an: POTION!!! POTION!!! Dabei macht er große, rudernde Bewegungen mit seinen Armen und starrt uns übellaunig und fordernd an: ZAUBERTRANK!!! ZAUBERTRANK!!! Seinem harschen Befehlston irritiert erlegen, wie verängstigte Kinder, folgen wir dem Mann schließlich. Er führt uns nur einige Schritte weiter, etwa in das Zentrum des überladenen Filmsets und verschwindet dann plötzlich. Wir schauen uns um, halten uns an unseren kleinen Pappbechern fest. Geht es jetzt etwa los?
Mittlerweile gehört es zum guten Ton in indischen Filmen möglichst westlich aussehende Ausländer für kleine stumme Rollen oder als Komparsen für den Hintergrund anzuheuern. Das wirkt cool und fancy und ist gerade für Party- und Tanzszenen der ganz große Hit. Denn dort, wo Weiße ihre starren Hüften schwingen, steigt bekanntermaßen die ganz große Party – so zumindest die Annahme der meisten Inder, die sich gerne mit weißer Haut in ihrem Bekanntenkreis schmücken. Die Inder selbst sprechen dabei von dem sogenannten Weiße-Haut-Syndrom.
In Bollywood, der bonbonbunten Traumfabrik Indiens für Filme in Hindi, einer der offiziellen Sprachen des Landes, ist das schon seit geraumer Zeit üblich. Mit über 1.000 produzierten Filmen jährlich hat Bollywood mittlerweile den großen Bruder Hollywood überholt und arbeitet täglich an unzähligen Produktionen gleichzeitig. Und sie alle suchen händeringend nach weißen Komparsen. Inzwischen ist das Ganze schon zu einer Art Touristenattraktion in Mumbai avanciert. Einmal eine Komparsenrolle in einem indischen Film übernehmen – einmal Teil von Bollywood sein – damit bewerben selbst Reiseführer Indiens Filmmetropole. Der Trubel in der Weltstadt am arabischen Meer ist derweil so groß, dass sich die Touristen mit einer Tagespauschale von 500 Rupien problemlos anwerben lassen. 6,50 Euro Tageslohn: Indische Komparsen im teuren Mumbai stünden dafür nicht einmal aus dem Bett auf.
Neben den Blockbustern aus Bollywood haben die meisten Staaten Südindiens hingegen eine eigene Filmindustrie in ihrer eigenen Sprache. Das im Norden gesprochene Hindi wird hier nämlich nicht verstanden. Die größte Filmindustrie des Südens befindet sich in Indiens südlichstem Staat Tamil Nadu und wird hauptsächlich in der Metropole Chennai produziert. In Anlehnung an Kodambakkam, dem Stadtviertel in dem sich die Filmstudios befinden, wird sie – wie sollte es anders sein – Kollywood genannt.
Westliche Komparsen bekommen hier eine Pauschale von 2000 Rupien pro Drehtag. Immer noch wenig, sagen einem die Inder. Bis zu 6000 Rupien seien den Produzenten die Komparsen pro Tag Wert. Etwa das 12-fache, für das sich die Touristen in Mumbai hergeben. Aber das wissen die natürlich nicht. Und wir eben auch nicht.
Indiens Filmindustrie ist völlig zu Recht als Schmonzetten-Fabrik bekannt. Gewalt und Sex sind tabu – familientauglich soll es sein. Die Geschichten gehen immer gut aus. Im Mittelpunkt steht natürlich die Liebe. Eine ohnehin tragische Angelegenheit in dem von traditionell arrangierten Ehen geplagten Land. Ein leidiges Thema, das aber alle hier mitten ins Herz trifft, da fast alle selbst betroffen sind. Immerhin: Seit kurzem huscht hin und wieder mal ein Küsschen über die Leinwand. Ansonsten wird Sex lediglich durch kitschige Metaphern angedeutet. Wenn Bäume im Wind hin und her wiegen oder eine Blüte in Nahaufnahme und Zeitlupe aufgeht, dann wird hier in den großen Kinos verlegen gekichert.
Die Filmindustrie Kollywoods ist da ein wenig innovativer als Bollywood. In Tamil Nadu gibt man sich nicht mit einem einzigen Thema pro Film zufrieden. Die Filme seien wie das Leben selbst, erzählen die Tamilen mit stolz geschwellter Brust. Ein bisschen Drama, ein bisschen Komödie, ein bisschen Liebesschnulze, ein bisschen Actionfilm. Ja, richtig gehört: Gewalt. Die populären Kampfkunstelemente im tamilischen Film haben der hiesigen Filmindustrie in letzter Zeit sogar Exportmöglichkeiten in den ostasiatischen Raum eingebracht. Besonders die Japaner sind völlig angetan von dem bunten low-budget Mix aus Südindien.
Da stehen wir nun, spontan über drei Ecken angeheuert und mit dem Taxi in die hereinbrechende Nacht an den Strand der ehemaligen französischen Kolonie Pondicherry chauffiert. Wir kommen geradewegs von einer Baustelle aus der nahe gelegenen internationalen Kommune Auroville, wo wir seit einiger Zeit an einem Projekt zu nachhaltigem Hausbau mit Lehm mitarbeiten. Dementsprechend sehen wir aus. Für die Party- und Tanzszene, die heute gedreht werden soll, ist das wohl nicht die angemessene Erscheinung. Dennoch empfängt man uns mit offenen Armen. Unsere weiße Haut macht es möglich.
Seit geraumer Zeit umklammern wir bereits unsere leeren Pappbecher, als wir schließlich in Paaren über das gesamte Filmset aufgeteilt werden. Wir sollen uns bitte natürlich und angeregt unterhalten, uns lächelnd auf die bevorstehende Party freuen. Immer wieder wird an uns herumgezupft, unser Winkel zur Kamera verändert, unsere Schultern gedreht. Verschiedene Menschen haben verschiedene Meinungen. Doch lieber hier? Nein, dort! Einer arbeitet, fünf gucken zu und geben Ratschläge aus dem Hintergrund: die typisch indische Arbeitsweise eben. Es ist eine Farce. Irgendwann, nachdem wir jedwede Position auf dem gesamten Filmset mindestens einmal eingenommen haben, sind sich endlich alle einig. Mittlerweile weiß ich auch, was es mit dem mysteriösen Zaubertrank auf sich hat. Der Drehbuchautor hat ernsthafte Schwierigkeiten das Wort „Position“ auszusprechen. Seine Versuche enden jeweils mit einem selbstbewusst und lautstark vorgetragenem „Potion“. Und obwohl wir nun allesamt in der gewollten Position verharren, geht es noch immer nicht los. Es ist ein langwieriger Prozess, durchzogen von Unorganisation, Vergesslichkeit und den Allüren einiger Weniger; allen voran die der Hauptdarsteller. Schon bald merken wir, dass diese Nacht eine sehr lange Nacht werden soll.
Dann erblicke ich ihn endlich: den Hauptdarsteller. Bis jetzt saßen er und sein Kollege Balaji, der Side Kick im Film, im klimatisierten Auto hinter uns: ein kleiner roter, tiefer gelegter Flitzer mit unnötiger weißer Rennstreifen-Verzierung. Dann wird ihnen die Tür geöffnet und der Hauptdarsteller lächelt sein unverkennbares Filmstar-Lächeln. Seine Haare, zu einer mächtigen Föhnwelle frisiert, erheben sich majestätisch über seinem Kopf. Seine Zähne blitzen in einem unnatürlichen Weiß, sein dichter schwarzer Bart bedeckt sein milchiges Schönlings-Gesicht. Sein Schnurrbart erinnert mich ein wenig an den eines Walrosses. In der Mitte ganz kurz gestutzt und lang in den Enden fällt er ihm buschig auf die Lippen. Er lehnt sich übertrieben lässig gegen das Auto, seinen rechten Fuß entspannt gegen das linke Bein gestützt. Er starrt pausenlos auf sein Handy, witzelt mit seinem Schauspielkollegen, lacht laut und überheblich. Er ist die personifizierte Coolness schlechthin. Augenblicklich stürmen seine Assistenten herbei. Einer hält ihm ununterbrochen einen kleinen Ventilator ins Gesicht, seine Haare und sein Bart werden gerichtet. Seine dunkle Mähne weht nun in der Brise des Ventilators vor sich hin. Ein bisschen Make-Up wird nachgelegt. Ein kleiner Kamm streicht über seine Augenbrauen. Für den jungen Filmstar ist das Tohuwabohu um ihn herum augenscheinlich eine Selbstverständlichkeit, die er kaum noch wahrnimmt. Er würdigt seinen Assistenten, die aufgeregt um ihn herum wuseln, keines Blickes. Er schaut nicht eine einzige Sekunde von seinem Handy auf.
Sein Schauspielkollege, ein großgewachsener, sympathisch wirkender junger Mann mit Hornbrille und lustigem Gesicht, braucht weniger Extra-Würstchen. Ein bisschen Puder – das war’s. Die ganze Situation kommt mir total unwirklich vor. Die ganze Zeit steht dort dieser arme Assistent und hält dem Hauptdarsteller diesen kleinen Ventilator ins Gesicht, versucht jede Bewegung aufzufangen, damit der Luftstrom bloß nie endet.
Ein richtiger Kollywood-Star steht also nun wahrhaftig vor uns. Es handelt sich um den 162 cm großen Schauspieler und Filmkomponisten Prakash Kumar. Doch Kumar, seit zehn Jahren im Geschäft, seit vier Jahren erfolgreich, ist nicht nur das: Wie fast jeder Schauspieler in Indien trägt er auch den ehrenwerten Titel Playback-Sänger. Bei den South Indian International Movie Awards und ähnlichen hochkarätigen Veranstaltungen war er zumindest mehrfach in der Kategorie Best Male Playback Singer nominiert.
Wir sind förmlich mitten in die Produktion des Filmes Kadavul Irukaan Kumaru (There is a God, Kumar) reingeschlittert, der Ende des Jahres in die südindischen Kinos kommen wird. Es handelt sich dabei um eine Liebes-Action-Komödie ganz nach tamilischer Tradition ein bunter Mix – wie im richtigen Leben also. Dem Regisseur zufolge sei der Film die südindische Version von Hangover.
Wie es für den Rest der Nacht der Fall sein wird, endet Kumars starrer Blick auf sein Handy zeitgleich mit dem Geräusch der Klappe. Die Szene startet. Mit wiegendem Schritt schreitet das ungleiche Paar zunächst von ihrem Auto kommend an uns vorbei mitten in das Filmset hinein. Auf der Bühne zu unserer rechten klimpert eine komplette Band lautlos, aber voller Enthusiasmus auf ihren Instrumenten. Die Party ist in vollem Gange. Schnitt. Diese Einstellung, vielleicht 4 Sekunden Filmlänge, wird fünf Mal gedreht. Wie auf Kommando zückt Kumar nach jedem Schnitt sein Handy. Sein Blick bleibt starr, während in Windeseile wieder Ventilator, Kamm und Bürstchen für Augenbrauen und Bart sowie Make-Up zum Einsatz kommen. Minutenlang wird hin und her gebrüllt, hektisch irgendetwas verändert, bevor die Szene nochmal gedreht wird. Insgesamt vergeht über eine Stunde.
Zweite Szene: Wir stehen nun im Hintergrund des Bildes, wieder in kleine Grüppchen aufgeteilt und tanzen entspannt zu Musik, die erst später in den Film hineingearbeitet wird.
Neben Kumar und seinem Freund Balaji betritt nun eine weitere Figur die Szene. Ich nenne sie, ausschließlich ihrer äußeren Erscheinung wegen, den Zuhälter.
Der Zuhälter, so grotesk er für mich auch aussehen mag, erfüllt alle Attribute dessen, was im kitschigen Indien, mehr noch hier im Süden, als cool und männlich gilt: Sein mächtiger Bauch umspannt ein weißes, zu eng anliegendes T‑Shirt, das mit einem riesigen, bunten und mit Pailletten verzierten Tigerkopf auf Brusthöhe geschmückt ist. Darüber trägt er ein Jackett, dessen Knöpfe meilenweit davon entfernt scheinen, die Knopflöcher zu finden. Der Kragen des Jacketts ist mit einer breiten Spur weißer Glitzersteinchen verziert. Er trägt – natürlich – eine von den in Indien bei Männern so beliebten Pilotenbrillen mit Goldrand. Dass die Partyszene nachts stattfindet ist dabei eher nebensächlich. Große goldene Klunker hängen von seinen Ohrläppchen. Zu seiner Seite steht eine weiße, dunkelblonde Französin aus Auroville. In einen Sari gesteckt, hoffen die Produzenten wohl, sie als Inderin durchzubekommen. Einer mit einer blendend weißen Haut gesegneten Inderin wohl gemerkt.
Die beiden Hauptdarsteller begrüßen den Zuhälter in der Szene nun überschwänglich. Ein großes „Hey Dude“ wird mit offenen Armen, einem heftigen, freundschaftlichen Schulterklopfen und einem noch lauterem „Hey Dude“ beantwortet. Die Szene ist an Lächerlichkeit kaum zu überbieten und wird etliche Male wiederholt, bevor sie im Kasten ist. Am Bildschirm des Regisseurs kann ich die Einstellung, die immer wieder in Zeitlupe geprüft wird, begutachten. Sie erinnert mich stark an diese furchtbaren low-budget Filme, die in alten, knarrenden und heruntergekommen Bussen wahlweise ohne Ton oder in ohrenbetäubender Lautstärke auf den flimmernden Bildschirmen über der Fahrerkabine laufen.
Als auch diese Szene endlich im Kasten ist, ist es fast Mitternacht. Unsere Nerven liegen bereits blank. Das nicht enden wollende Drama aus Wiederholungen, dröhnenden, hektischen Stimmen aus schlechten Boxen und noch schlechteren Megaphonen und in Gesichter gehaltene Mini-Ventilatoren ist ermüdend und – noch schlimmer – scheint noch Stunden anzuhalten. Wir liegen schon lange nicht mehr im Zeitplan. Fast noch leidiger ist es jedoch, dass wir keinerlei Informationen bekommen. Mit uns redet schlichtweg niemand. Wie viele Szenen werden noch gedreht? Bei wie vielen Szenen werden wir als Komparsen gebraucht? Wie lange wird das hier überhaupt dauern? Wir stehen die meiste Zeit ahnungslos in einer Ecke und warten, teilweise stundenlang, auf unser Codewort: Zaubertrank.
Es gibt endlich eine kleine Pause. Anstatt direkt zum provisorisch aufgebauten Buffet aus Reis und einigen Currys zu gehen, besuchen wir lieber die Bar, die sich neben dem Set am Strand befindet. Uns dürstet es nach Bier und wir haben noch genau 20 Minuten, bevor die Kneipe, mit schummriger Discobeleuchtung in Rot- und Blautönen und billigen Stühlen, schließt.
Der Wirt, mutterseelenallein, ist überrascht Kundschaft in seinem Laden zu sehen. Schnell wird das Programm auf der kleinen Leinwand an der Wand umgeschaltet. Statt Kollywood läuft jetzt ein stummgeschalteter Musiksender. In Anbetracht unserer misslichen Lage, in der wir offensichtlich die ganze Nacht gefangen bleiben werden, entscheiden wir uns für Cocktails. Bier bringt es jetzt einfach nicht. Kaum erreicht die zweite Runde unseren Tisch, wird draußen schon hektisch nach uns gesucht. POTION! POTION! Wir sehen uns gezwungen, die gerade erst servierten Getränke in zu großen Schlucken runter zu spülen, verlassen – zugegeben – etwas angetrunken die Bar und torkeln Richtung Filmset.
Wir werden erneut im Hintergrund aufgestellt. Mittlerweile haben wir auf dem Bildschirm des Regisseurs entdecken können, dass in dieser Szene nur ab und zu einer unserer Hinterköpfe im Bild ist, oder ein kleines Stück unseres Unterarms. Wir sind also ganz entspannt.
Da werde ich plötzlich am Arm gepackt und ungefragt direkt vor die Kamera gezogen. Ich bin jetzt anscheinend die Freundin von Superman, einem jungen Tamilen mit einem überladenen, sehr bunten und mit Glitzerpartikeln bestäubten Superman T‑Shirt. Aber so genau weiß ich es selber nicht. Mit mir redet man nicht viel. Ich verstehe nicht wirklich was meine Aufgabe ist. Außerdem bin ich betrunken. Superman klärt mich fragmentarisch auf. In der ersten Szene unterhalte ich mich lächelnd und angeregt mit ihm, während der Zuhälter, die Kamera im Rücken, auf uns zustolziert.
Ich werde unsanft gepudert, möchte schon lautstark nach dem Ventilator schreien, da werde ich schon von verschiedenen Personen hin und her geschoben, mein Gesicht, meine Hüften in die richtige Position gebracht. Mein Gesicht ist jetzt, für mein westliches Distanz-Verständnis, sehr nah an dem Supermans. Ich überlege noch, was ich mit diesem völlig fremden Typen in dieser unangenehmen Situation sprechen soll, da beginnt auch schon die erste Szene. Wir führen katastrophalen Smalltalk. Da ich weder die Abläufe kenne, noch die dröhnenden Anweisungen aus dem Megaphon verstehe, bekomme ich nie mit wann die Szene startet, noch weniger wann sie aufhört. Wenn Superman während ich spreche das Gespräch abrupt beendet und sich wegdreht, dämmert es mir, dass die Szene vorbei ist. Wenn nicht, macht mich Superman milde lächelnd darauf aufmerksam, dass wir jetzt nicht mehr weiter sprechen bräuchten. Immerhin: Nachdem er erfahren hat wie alt ich bin, wechselt der junge Mann vom flapsigen „my friend“ zum respektvollen „Madame“.
Nächste Einstellung: Superman und der Zuhälter geben sich laut klatschend die Hand, ich stehe wie ein kleines Mädchen daneben und nicke eifrig zur Begrüßung.
Meine dritte und letzte Szene ist noch weniger erquickend. Soweit ich es verstehe, lässt mich Superman wegen einer anderen Frau stehen. Ich bleibe, wütend und fassungslos, die Hände in die Hüften gestemmt, zurück.
Da niemand mit mir spricht, kann ich nur erahnen, was ich überhaupt machen soll. Supermann gibt mir wirre Anweisungen. Es wirkt, als hätte er selber keine Ahnung. Nach der ersten Szene kommt irgendein Verantwortlicher auf Superman und mich zugestürmt. Aggressiv und unzufrieden brüllt er eine Zeitlang auf Tamil auf mich ein. Dann wendet er sich an Superman und macht ihn auch zur Schnecke. Irritiert gucke ich Superman an, er winkt meinen fragenden Blick nur ab. Nachdem alles etliche Male abgedreht ist und ich auf gut Glück jedes Mal etwas anderes mache, darf ich endlich gehen.
Dann betritt sie endlich die Szene: die Hauptdarstellerin Nikki Galrani und Grund dafür, dass mich Superman hat sitzen lassen. Die junge Frau, weiß wie eine Mitteleuropäerin, trägt einen funkelnden, wunderschön verzierten, pompösen, knallroten Sari. Ihre langen, dunklen, spiegelglatten Haare wehen ununterbrochen im Wind des alten, riesigen Ventilators, der ihr für diesen Zweck – und trotz seines Gewichts – ständig hinterher getragen wird. Nikki kommt natürlich nicht aus Tamil Nadu. Erschreckenderweise sind die Schauspielerinnen in den Filmen Kollywoods nur in sehr wenigen Ausnahmefällen aus dem südlichsten Staat Indiens. Grund dafür ist schlichtweg ihre hier typische dunkle Hautfarbe, die den Schönheitsidealen der Inder nicht entspricht. Indien, geradezu besessen von weißer Haut, hält den Mädchen und Frauen mit dunklem Teint ihr Leben lang unter die Nase, dass eine Frau mit dunkler Haut niemals schön sein kann. Obskure Cremes und Wässerchen, die eine magische Aufhellung über Nacht versprechen, werden an jeder Ecke angepriesen. Keine Schauspielerin, kein Model, keine Werbeanzeige, kein Plakat: Nichts und Niemand wirbt mit dunkler Haut. Alle ach so schönen Menschen in Indien sind weiß wie eine Wand. Es geht sogar so weit, dass das schneeweiße britische Model Amy Louise Jackson massenhaft Rollen in Kollywood angeboten bekommt, in denen sie doch tatsächlich indische Charaktere mit malerischen Namen wie Nandhini Ramanujan spielt. Eine Geschmacklosigkeit, die fast alle Frauen auf dem Subkontinent diskriminiert.
Weiße Haut ist sogar Kriterium für die Auswahl des Ehepartners. Mädchen wird ans Herz gelegt, bloß nicht zu lange in die Sonne zu gehen. Man wolle ja noch einen Ehemann finden. Weiße Haut verspricht Erfolg im privaten, sowie im Berufsleben. Weiße Haut scheint elementar. Ja gar lebenswichtig.
Nikki hat jetzt ihre erste Sprechszene. Die Nordinderin hat Probleme mit der tamilischen Sprache und vermasselt die Szene mehrfach, bis der Regisseur ihr nachsichtig anbietet, den Text auf Englisch zu sprechen. Der Film wird im Nachhinein sowieso synchronisiert.
Es ist mittlerweile weit nach Mitternacht. Kumar, der Hauptdarsteller, der nur von seinem Handy aufschaut, sobald die Kamera läuft, hat inzwischen ein mächtiges Batterypack an das Gerät angeschlossen.
Die schöne Nikki steigt nun aus einem schneeweißen Audi A6 aus. Wir laufen wie Aufziehmännchen hinter dem Auto die Straße auf und ab. Fast eine halbe Stunde lang. Nikki hat Probleme mit ihrem Sari aus dem Fahrzeug auszusteigen, ohne zu stolpern. Es ist fast zwei Uhr morgens. Und die Allüren der Hauptdarstellerin kosten allen Menschen am Set die letzten Nerven.
Nun, da Nikki es endlich geschafft hat, aus dem Auto auszusteigen, fährt die Kamera ganz langsam von ihren Füßen hoch zu ihrem Gesicht. Sie probt sich schon in ihrem lasziven Gesichtsausdruck, mit zur Seite geneigtem Kopf, leicht geöffnetem Mund und dem Wind des Ventilators in ihrem Haar, dabei verbleibt die Kamera noch mehrere Sekunden lang auf Höhe ihrer Brüste. Eine außerordentlich bizarre Szene, die jeder Frau die Tränen in die Augen triebe. Da stoppt Nikki völlig hysterisch die Aufnahme. Sie möchte noch mal nachgeschminkt werden. Und jemand muss sich dringend um ihre Haare kümmern. Sie wird zu ihrem Wohnwagen gebracht, aus dem sie laut polternd ihrer Unzufriedenheit Luft macht.
Kopfschüttelnd bleibt die gesamte Mannschaft wartend zurück. Wir hinken dem Zeitplan drei Stunden hinterher.
Dann endlich die vorletzte Szene. Eine Gruppe aus etwa 25 Tänzern tritt nun auf. Konzentriert und eifrig übt jeder für sich die gelernten Tanzschritte, eine Choreographin gibt Anweisungen und führt die Tänzer schließlich als Einheit zusammen. Zu lauter, beatlastiger Musik explodiert nun ein wahres Feuerwerk dessen, was dem Klischee indischer Filme mehr als nur gerecht wird. Synchron werden die Hüften geschwungen, heftig in die Luft geboxt, die Körper und die Köpfe verdreht, sich in schlangenähnlichen Bewegungen zur Seite gedreht, mit weit gespreizten Beinen kraftvoll der Unterleib nach vorne geschleudert, als werde eine Sexszene gedreht. In der tropischen Nacht sind die Tänzer nach wenigen Minuten komplett nassgeschwitzt.
Dabei ist es die Mischung der Männer, die faszinierend ist. Von jungen, athletischen Männern bis hin zu denjenigen, die eine riesige Plauze vor sich hertragen und umso mehr meinen Respekt erfahren, dieses Tempo in dieser Hitze durchzuhalten, sind alle Typen vorhanden.
In der Zwischenzeit posiert der Zuhälter, lässig auf der Motorhaube der blendend weißen Limousine liegend, für zukünftige Filmplakate.
3:30 Uhr morgens: Endlich wird die letzte Szene vorbereitet. Auf 300 Metern entlang der Straße werden quietschbunte, meterhohe Leuchtdekorationen seitlich der Fahrbahn aufgebaut.
Im Vordergrund steht die Gruppe aus Tänzern, der sich nun Kumar, der Hauptdarsteller, anschließt. Einige Meter dahinter stehen wir, eine übermüdete Gruppe Ausländer, die jetzt, je nach Gusto, aber bitte wild und in großen Bewegungen, zu der indischen Popmusik tanzen soll. Hinter uns hat der Audi noch mal seinen letzten dekorativen Auftritt für diese Nacht.
Die Kamera, weit oben an einem kleinen Kran angebracht, filmt nun die gesamte Straße hinunter.
Wie jede Nacht schlafen etliche Obdachlose am Strand von Pondicherry. Dass wir sie bis in die frühen Morgenstunden mit lauter Musik aus meterhohen Lautsprechern beschallen und ihren Schlafplatz in eine Disko verwandeln, hat sie bis jetzt nicht gestört. Doch nun werden einige gebeten, sich bitte aus dem Bild zu entfernen. Kommentarlos ziehen diese von dannen und legen sich einige Meter weiter wieder in den Sand.
Kumar, der nun an der Spitze der Gruppe tanzt, ist deutlich weniger talentiert als die Tänzer und wird von der Choreographin noch mal eingehend unterwiesen. Offensichtlich sieht er die Tanzschritte zum ersten Mal in seinem Leben. Er kann sich die Abfolge einfach nicht merken.
Auch jetzt noch stehen etliche Zuschauer um das kleine Filmset herum und beobachten das sich in Zeitlupe entwickelnde Spektakel einer indischen Filmproduktion. Sie wollen teilhaben an einer Glitzerwelt, an schnellen Autos, schönen Frauen, westlich anmutenden Partys und herzergreifenden Romanzen; einer Welt prall gefüllt mit bunten, aufwendig bestickten Saris, lauter Musik, wildem Tanz und anzüglicher Choreographie, an dem Fest, das das Leben der reichen Obersicht Indiens darstellen soll. Einem Fest, das diese Männer nur vom Bildschirm her kennen.
Irgendwann, als fast schon der Morgen über der Bucht von Bengal graut und die letzte Klappe schallend fällt, stehen immer noch Dutzende Schaulustige um uns herum. Es sind die Männer, die sich wenig später zu den anderen legen werden, die Nacht für Nacht am Strand schlafen. Am frühen Morgen, wenn die Sonne am Horizont über dem Meer aufgegangen ist, wird die Brandung als öffentliche Toilette genutzt. Dann hocken sie dort, in Reih und Glied mit dem Rücken zum Meer, beschämt auf den Boden blickend und verrichten ihre Notdurft, die augenblicklich von den Wellen in die Weite des Meeres gezogen wird. Vom Glitzer und Glanz Kollywoods wird dann am Strand von Pondicherry nichts mehr als eine vage Erinnerung übrig sein.
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