Die Vergessene Stadt

Dich­ter Wald brei­te­te sich unmit­tel­bar vor uns aus. Bis hier­her hat­ten wir es mit Hil­fe der alten Kar­ten und Plä­ne geschafft, auch ohne die ohne­hin nicht sehr gesprä­chi­gen Ein­hei­mi­schen in Anspruch neh­men zu müs­sen. In der letz­ten Sied­lung, die wir durch­quert hat­ten, schien man jeden­falls nicht all­zu erpicht auf Besu­cher gewe­sen zu sein. Kein Hin­weis, der den Weg hier­her – hin­ein in den Wald, auf den schma­len Pfad, der nun vor uns lag – gewie­sen hät­te. Allein die Satel­li­ten­auf­nah­me ver­riet, was die dich­te Vege­ta­ti­on dem Blick ent­zog: irgend­wo inmit­ten die­ses dunk­len Gehöl­zes muss­te sie lie­gen – jene längst ver­ges­se­ne Stät­te, derent­we­gen wir die­se Rei­se über­haupt auf uns genom­men hat­ten.

A breathing swamp surrounds the city, trying to keep away any intruder.

Kar­ten und Plä­ne wie­der in der Umhän­ge­ta­sche ver­staut und einen prü­fen­den Blick auf die sich lang­sam dem Zenit nähern­de Son­ne wer­fend, gab es kei­nen Grund län­ger zu zögern. Mit jedem Schritt auf dem schnur­ge­ra­den stau­bi­gen Weg drin­gen wir tie­fer in das Däm­mer­licht, las­sen den lich­ten Früh­lings­mor­gen in dem Moment hin­ter uns zurück als wir die­sen anschei­nend vom Rest der Welt los­ge­lös­ten Wald betre­ten. Stil­le umfängt uns. Die ein­zi­gen ande­ren leben­den Wesen, denen wir hier begeg­nen sind Hor­den von Mos­ki­tos, die uns aus schmat­zen­den Sümp­fen ent­ge­gen­schwär­men. Bei­na­he als ver­such­ten sie, die Ein­dring­lin­ge fern­zu­hal­ten. Kilo­me­ter­lang schlän­gelt sich der Pfad durch das Dickicht; mal mehr, mal weni­ger deut­lich zwi­schen kah­len Ästen und dich­tem Strauch­werk aus­zu­ma­chen – bis er plötz­lich abrupt zu enden scheint.

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Kie­fern ducken sich in die Schat­ten als wür­den sie das wind­schie­fe Tor, das sie erfolg­los unse­rem Blick zu ent­zie­hen ver­su­chen, bewa­chen. Vor­sich­tig nähern wir uns, hal­ten nur kurz inne um uns zu ver­si­chern, dass unser klei­ner Expe­di­ti­ons­trupp voll­zäh­lig und nie­mand in den Sümp­fen zurück­ge­blie­ben ist, bevor wir vor­sich­tig, einer nach dem ande­ren hin­durch­tre­ten. Jedoch – kein Wäch­ter, der aus dem klei­nen Unter­stand neben­an käme um uns auf­zu­hal­ten. Nie­mand der zu wis­sen ver­langt, was wir hier zu suchen hät­ten. Die­ser Pos­ten ist längst ver­las­sen; der Ver­schlag dem Ver­fall anheim­ge­ge­ben. So wie der Rest der Stät­te, die sich nun vor unse­ren Augen aus­brei­tet: auf­ge­sprun­ge­ne Stra­ßen, die uns locken näher­zu­kom­men und einen Blick auf die ver­fal­le­nen Bau­ten zu wer­fen, die aus dem Unter­holz ragen. Rui­nen, längst zurück­er­obert von der dich­ten Vege­ta­ti­on des Wal­des. Zwi­schen den Bäu­men in der Fer­ne kön­nen wir wei­te­re Gebäu­de erken­nen, wei­te­re Pfa­de und Wege und Plät­ze zeich­nen sich unter Sträu­chern und Büschen ab. Eine gan­ze Stadt liegt hier im Wald ver­bor­gen.

Apartment buildings.

Vogel­sang. So hieß das klei­ne Ört­chen jen­seits des Wal­des, das wir vor­hin pas­siert hat­ten. Und so hieß auch die­ser Ort. Aber das hier, das war ein ande­res ‚Vogel­sang’. Zunächst, als 1945 Trup­pen der Alli­ier­ten im besieg­ten Deutsch­land sta­tio­niert wur­den, war es nur eine ver­gleichs­wei­se über­schau­ba­re rus­si­sche Kaser­ne, die hier in den Wäl­dern errich­tet wur­de. Doch bald schon wuchs der Stütz­punkt zur größ­ten Gar­ni­son der Roten Armee außer­halb der Sowjet­uni­on. Mehr als 15.000 Men­schen, Sol­da­ten und Zivi­lis­ten, sol­len einst hier gelebt haben – bis zum Abzug der „Grup­pe der Sowje­ti­schen Streit­kräf­te in Deutsch­land“ vor über 20 Jah­ren. 15.000 Men­schen. Eine voll­stän­dig aut­ar­ke Klein­stadt: das rus­si­sche Фогелзанг. Her­vor­ge­gan­gen aus der poli­ti­schen Neu­ord­nung am Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges und in ste­ti­ger Anspan­nung auf der Schwel­le zum Drit­ten ist die Geschich­te die­ses ande­ren Vogel­sang auch eine des Kal­ten Krie­ges. Eine Geschich­te, die von der Tei­lung der Welt in zwei poli­tisch und gesell­schaft­lich gegen­sätz­li­che Macht­blö­cke erzählt, deren Gren­ze hier, nur ein paar Kilo­me­ter Rich­tung Süden in Eisen gegos­sen und Stein gemei­ßelt war. Eine Geschich­te von Para­noia und mili­tä­ri­schem Wett­rüs­ten. Aber eben auch eine Geschich­te sowje­ti­schen All­tags – mit­ten in der Frem­de.

Und tat­säch­lich sind es auch zunächst die Spu­ren und Hin­ter­las­sen­schaf­ten die­ses All­tags, die uns auf unse­rem wei­te­ren Weg tie­fer hin­ein in die­se Stadt im Wald begeg­nen. Die Res­te eines längst ver­gan­ge­nen All­tags zwi­schen gespens­tisch schweig­sa­men Rui­nen inmit­ten post­apo­ka­lyp­tisch anmu­ten­den Ver­falls. Die Natur hat die Stadt inzwi­schen zurück­er­obert. Bäu­me und Sträu­cher wach­sen zwi­schen Schutt und Geröll; sprö­de sprie­ßen Gras und Dor­nen aus ris­si­gem Asphalt. Auf­ge­schreckt sprin­gen Rehe davon als wir uns einem ein­drucks­vol­len Gebäu­de im Zen­trum nähern. Knor­ri­ge Bir­ken klam­mern sich an brö­cke­li­ge Stu­fen, eben­so beharr­lich wie ver­geb­lich den Weg hin­ein zu ver­weh­ren schei­nend. Schon ste­hen wir im düs­te­ren Vor­raum die­ses einst pracht­vol­len Gebäu­des – eines Thea­ters, wie wir bei einem Rund­gang bald fest­stel­len. Wei­te, ele­gant geschwun­ge­ne Trep­pen füh­ren hin­auf in die im Schat­ten lie­gen­den obe­ren Räu­me. Die stau­bi­ge Büh­ne prä­sen­tiert sich trist einem schweig­sa­men Audi­to­ri­um. Der letz­te Vor­hang ist, im Wort­sin­ne, längst gefal­len.

Deserted.

Hin­ter den blin­den Fens­tern und wind­schie­fen Türen eines Cafés nur ein paar Stra­ßen wei­ter sam­meln sich Unrat und zer­schla­ge­ne Erin­ne­run­gen an leb­haf­te­re Zei­ten. Zei­ten, von denen die benach­bar­ten Monu­men­te und Wand­bil­der, Lenin und Rot­ar­mee-Sol­da­ten, beredt Aus­kunft geben.

Telling of bygone glory.

Auch das nahe Kino ist kaum mehr als ein Schat­ten sei­ner frü­he­ren Pracht: die Hälf­te des Daches ist ein­ge­stürzt und hat einen gro­ßen Teil von Zuschau­er­raum und Sitz­rei­hen unter sich begra­ben, die Lein­wand ist längst ver­schwun­den, nur ein paar Fet­zen noch flat­tern schwach im Wind. Die Regal­rei­hen des klei­nen ‚Magasin’, Kauf­haus und Lebens­mit­tel­markt zugleich, das wir an der nächs­ten Stra­ßen­ecke pas­sie­ren, sind schon vor lan­ger Zeit geleert wor­den – ein­zig Staub, reich­lich Staub, ist in dicken Flo­cken zurück­ge­blie­ben. Das Par­kett in der Turn­hal­le gegen­über ist stumpf gewor­den und gebors­ten, aus­geb­li­chen blät­tert die Far­be von den Wän­den. Ein Bas­ket­ball­korb liegt zer­bro­chen am Boden.

Dort, wo frü­her viel­leicht ein­mal das Lär­men von Kin­dern die Gän­ge erfüllt haben moch­te, herrscht heu­te eben­falls eine gera­de­zu bedrü­cken­de Stil­le – nur das Echo unse­rer Schrit­te hallt in den lan­gen dunk­len Flu­ren des Schul­ge­bäu­des, das wir kurz dar­auf betre­ten, wider. Irgend­wo in einem der obe­ren Stock­wer­ke schla­gen immer wie­der Türen und Fens­ter im Wind und las­sen uns ein ums ande­re Mal ner­vös zusam­men­zucken.

No children's noise, the classrooms are left too ... only the wind is slamming the windows.

Im benach­bar­ten Kin­der­gar­ten begeg­nen wir plötz­lich der eige­nen Ver­gan­gen­heit wie­der: ein rie­si­ges Wand­ge­mäl­de, das die Hel­den zahl­rei­cher rus­si­scher Kin­der­bü­cher und ‑erzäh­lun­gen ver­sam­melt, macht ganz plötz­lich ganz deut­lich, dass wir uns hier zwar durch­aus auf his­to­ri­schem Ter­rain bewe­gen, Welt­ge­schich­te gar, dass die­se, dass jede Epi­so­de der Geschich­te aber eben auch wesent­li­cher Teil unse­res, jeman­des, All­tag ist.

Wow - i recognize quite some characters on that picture from my own kindergarten time! There's Burattino (the Russian counterpart to Pinocchio),  the onion guy and that bear ...

Ein All­tag, der hier zwar eben­falls über­all ables­bar ist, aber den­noch nicht die eigent­li­che Bestim­mung die­ser Stadt mit­ten im Wald ver­ber­gen kann. Den grö­ße­ren Teil der Gebäu­de­kom­ple­xe, auf die wir wäh­rend unse­rer Exkur­si­on durch die­se Geis­ter­stadt sto­ßen, stel­len offen­kun­dig Trup­pen­un­ter­künf­te dar – Quar­tie­re jeder Cou­leur: schmu­cke Holz­häu­ser mit gro­ßen Kachel­öfen für die höhe­ren Dienst­gra­de; gro­ße Schlaf­sä­le, Gemein­schafts­toi­let­ten und Kano­nen­öfen für die Mann­schaf­ten (auch die ver­git­ter­ten Fens­ter spre­chen für sich). Über den mili­tä­ri­schen Cha­rak­ter der gan­zen Anla­ge jeden­falls kön­nen die zivi­len Ein­rich­tun­gen mit ihrem Anschein von All­täg­lich­keit nicht hin­weg­täu­schen. Neben Ver­wal­tungs­bü­ros in genorm­ten Back­stein­bau­ten rei­hen sich lee­re Fahr­zeug- und Maschi­nen­hal­len anein­an­der.

Every step breaks the silence, the beam of the flashlight intrudes into darkness.

Nicht nur die 25. Pan­zer­di­vi­si­on der Roten Armee war einst hier in der Gar­ni­son Vogel­sang sta­tio­niert, auch ande­re Regi­men­ter moto­ri­sier­ter Infan­te­rie, vor allem aber – und das soll im Fol­gen­den von Bedeu­tung sein – ein Teil des Groß­ver­ban­des der tak­ti­schen Rake­ten­ab­tei­lung hiel­ten die Stel­lung. Die­se Erkennt­nis rückt dann auch die von Sand bedeck­ten Bun­ker und die unschein­ba­ren, von Gesträuch über­wu­cher­ten Beton­platt­for­men drau­ßen im Wald vor der Stadt in ein ganz ande­res Licht und legt Zeug­nis von einem kaum bekann­ten Kapi­tel des Kal­ten Krie­ges ab. Eines, über das sei­ner­zeit nicht ein­mal die höchs­ten Stel­len der DDR-Regie­rung infor­miert waren. Zwi­schen 1959 und 1960 – und damit gut drei Jah­re vor der Kuba­kri­se, die den Kal­ten dicht an die Gren­ze eines ech­ten Krie­ges führ­te – hat die Sowjet­uni­on hier offen­bar zum ers­ten Mal nuklea­re Spreng­köp­fe außer­halb ihres eige­nen Ter­ri­to­ri­ums sta­tio­niert. Nuklea­re Spreng­köp­fe. Hier, in Vogel­sang. Die zuge­hö­ri­gen Rake­ten vom Typ R‑5 (SS‑3 Shys­ter im NATO-Code) hat­ten eine Reich­wei­te von 1.200 Kilo­me­tern – und hät­ten damit pro­blem­los die Haupt­städ­te West­eu­ro­pas (Lon­don bei­spiels­wei­se liegt kaum 1.000 Kilo­me­ter ent­fernt) errei­chen kön­nen.

9

Doch die Geschich­te nahm einen ande­ren Lauf – und man wird das wohl frag­los ein gro­ßes Glück nen­nen dür­fen. Der Eiser­ne Vor­hang, der Euro­pa und die Welt in zwei Blö­cke teil­te, wur­de nie­der­ge­ris­sen. Die Prä­senz rus­si­scher Streit­kräf­te im Osten Deutsch­lands fand 1994 nach bei­na­he 40 Jah­ren ein Ende. Die Trup­pen ver­lie­ßen ihre Stand­or­te, ver­lie­ßen auch Vogel­sang. Zurück blie­ben Back­stein, Beton und Stahl. Kaser­nen und Bara­cken ver­fie­len, gan­ze Städ­te ver­schwan­den in Dickicht und Wald. Die Natur holt sich zurück, was ihr müh­sam abge­run­gen wur­de. Wo einst Sol­da­ten mar­schier­ten, strei­fen nun Wild­schwei­ne und Wasch­bä­ren umher. Die Blät­ter rau­schen im Wind, irgend­wo in der Fer­ne ist Vogel­ge­zwit­scher zu hören.

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