Die Armut vor dem Hotelzimmerfenster

Die Armut ist sofort da, wenn du kommst. So viel Dreck, dass die indi­sche Spra­che viel­leicht tau­send Aus­drü­cke für Dreck hat, tro­cke­ner Dreck, stau­bi­ger Dreck, bun­ter Dreck, ein­far­bi­ger Dreck, Dreck zum Essen, roter Dreck vom Aus­spu­cken des Kau-Tabaks.

Wir fah­ren durch die Armut ins Hotel.
Ich den­ke, dass die­se zwei Män­ner vor­ne im Auto, die uns abge­holt haben, die uns nicht anse­hen, die nicht mit uns reden, die uns nicht ver­ste­hen, die wer­den uns irgend­wo­hin brin­gen, wo es nicht so …
… wo es nicht so ist, wie es hier ist?
Den­ke ich am Anfang.
Irgend­wo, wo es sicher ist.
Für Tou­ris­ten.

Men­schen, die in Indi­en waren, sag­ten: „Ja, arme Leu­te, klar. Gibt aber auch so schi­cke Vier­tel, alles aus ver­gol­de­tem Mar­mor.“
Ich wuss­te, dass es arm und reich gibt und dach­te, es wäre räum­lich etwas getrennt.
Ich weiß nicht, war­um ich dach­te, dass wir am Anfang in so einem Mar­mor-Vier­tel sein wür­den. Ein­fach so. Um die Armen und die Rei­chen zu tren­nen, damit die Armen nicht trau­rig wer­den und die Rei­chen, die auch nicht. Und in die­sem Land bin ich reich. Klar, so den­ke ich, als ich ankom­me. Ich bin reich und alle wol­len mein Geld weg­neh­men.
Ich dach­te, man bewahrt hier die Rei­chen und Armen getrennt von­ein­an­der auf, Schub­la­de auf, Schub­la­de zu. Damit sie ein­an­der nicht sehen, dabei sind bei­de nur da, weil der ande­re da ist. Die Armen müs­sen dahin, wo die Rei­chen sind, denn die haben sie ver­ur­sacht und sind für sie zustän­dig. Und wie sol­len denn Arme bei Armen bet­teln?

Die Armut, die da ist, ist plötz­lich wirk­lich da. Über­all. Klar, dar­über gele­sen. Na und? Im Fern­se­hen gese­hen. Na und! Ins­ge­heim habe ich wohl immer gedacht, dass sind nur Tei­le des Lan­des oder der Bericht ist fünf Jah­re alt und inzwi­schen ist alles anders.
Es ist über­all und es ist genau­so. Aber über­all.
Foto­gra­fen, die das foto­gra­fiert haben, die haben ein­fach in irgend­ei­ne Rich­tung foto­gra­fiert.
Auf dem Weg zum ers­ten Hotel bren­nen Feu­er auf der Stra­ße. Hun­de rau­fen und bel­len.
Die Armut ist um das Hotel her­um. Das Hotel hat einen hohen schwar­zen Zaun mit Dor­nen oben. Aber innen rote Schlei­fen, wegen Weih­nach­ten.
Beim Ankom­men leuch­tet ein Page mit einem Spie­gel am Stiel unter das Auto. Von innen sieht es aus, als wol­le er das Auto kom­pli­ziert zie­hen. Als ich drau­ßen bin erin­nert mich das Gerät eher an einen Schnee­schie­ber. Es ist ein Spie­gel, um unter das Auto zu kucken. Dass dort kei­ner ist. Kei­ner und nichts. Ich über­le­ge, was wäre wenn dort einer wäre oder etwas. Was? Bom­be?
Wird das in ande­ren Hotels auch gemacht?
Dann kommt eine Sicher­heits­schleu­se. Ein Mann mit Maschi­nen­ge­wehr.
Im Auto habe ich dem Kind Mos­ki­to­spray auf­ge­sprüht. Außer­dem stinkt es und ich gebe ihr mei­nen Schal. Den soll sie vors Gesicht hal­ten. Im Hotel den­ke ich, dass sie jetzt gleich schlech­te Lau­ne bekommt. Zu viel Gefahr! Was wol­len wir hier? Aber sie mag das Hotel. Voll­zieht im Zim­mer wie immer auf dem Hotel­bett einen kichern­den Hüpf­test (es ist 23 Uhr Ber­lin­zeit, 3:30 Uhr Del­hi­zeit)
Ich sehe aus dem Fens­ter und genau gegen­über ist eine Müll­hal­de. Ein Hund steht da und frisst etwas.
Guten Nacht.

Ein jun­ger Mann pfeift nach den Vögeln auf den Strom­lei­tun­gen.

Am nächs­ten Mor­gen sehe ich, dass gegen­über ein rich­ti­ges klei­nes Lager ist. Es ist ein Zaun drum her­um. Und um den Zaun die Stra­ßen. Dar­über ist eine Hoch­bahn. Dar­über Kabel. Dar­auf Vögel. Dar­über ein Him­mel mit gefil­ter­tem Licht.
Das Kind schläft sehr lan­ge und ich set­ze mich ans Fens­ter und schaue dem Leben dort unten zu. Wäre ich dort unten, wür­de ich schnell wei­ter­ge­hen. Sie wür­den bet­teln, ich weg­se­hen, den Kopf schüt­teln. Komi­scher­wei­se kann ich ihnen hier hin­term Fens­ter näher sein, als wenn ich ihnen nah wäre.
Am Fens­ter habe ich Zeit ihnen zuzu­se­hen bei dem, was sie tun.
Sie holen Was­ser. Brin­gen es dort­hin, wo sie Sachen waschen und kochen. Es sind zwei ver­schie­de­ne Berei­che. Küche und Wasch­raum. Sie klop­fen die Wäsche und hän­gen sie neben dem Stra­ßen­dreck auf. Sau­be­rer als vor­her. Die Kin­der spie­len mit Gegen­stän­den, mit sich selbst und ren­nen mit einem Hasen um die Feu­er­stel­le. Eini­ge lie­gen rum und schla­fen. Eine Frau kommt nach Hau­se und wird begrüßt. Ein jun­ger Mann pfeift nach den Vögeln auf den Strom­lei­tun­gen. Die Vögel flie­gen nicht auf. Es ist so laut rings­her­um. Was ist schon ein Pfei­fen in Indi­en? Ein ande­rer Mann geht eine Kreu­zung wei­ter und ver­kauft Luft­bal­lons.
An der Kreu­zung steht ein Hund und bellt die Autos aus.
Als das Kind auf­wacht, setzt sie sich mit Leb­ku­chen von Zuhau­se ans Fens­ter und starrt gebannt in das Frem­de.
Sie freut sich über die Hun­de, das Kuh­ge­spann, das Gewu­sel und alles.

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Ich gebe zu, dass ich als Mut­ter oft Mut­ter­sa­che sage und gesagt habe. Die armen Kin­der in XY. Ja, das habe ich gesagt. Und auch abends sage ich es zur Toch­ter. Die Kin­der unten vor dem Hotel wären froh und so wei­ter. Natür­lich benut­zen Kin­der oft irgend­et­was als Argu­ment, nur weil es da ist und die ande­re Posi­ti­on ein­nimmt (Erwach­se­ne tun das ja auch), aber sie mei­nen auch oft das was sie sagen. Und das Kind sagt, dass sie ger­ne da unten wäre. Ist doch schön. Alle zusam­men unter frei­en Him­mel. Mit den Tie­ren. Ich gehe mit ihr ans Fens­ter und zei­ge in die ver­qualm­te smo­ki­ge Dun­kel­heit run­ter zur hupen­den, vol­len Kreu­zung. Zwi­schen den Autos lau­fen die Kin­der umher und bet­teln. Kind sagt, dass sie sowie­so nicht müde ist und nur ICH will, dass sie schläft. Und sie wür­de gern arbei­ten und was zu tun haben. Ich bin mir natür­lich sicher, dass sie nicht Recht hat. Oder?
Quatsch. Oder? Quatsch. Da sind Krank­hei­ten. Und Flö­he. Und Ver­ge­wal­ti­gun­gen. Und die Kin­der kön­nen nicht zur Schu­le. Das weiß ich alles.
Als das Kind schläft, erwischt mich mit vol­ler Wucht ein ungu­tes gutes Gefühl. Ich bin total oben und hin­term ver­schnör­kel­ten Bal­kon­git­ter. Ich schaue von oben auf das alles. Auch manch­mal auf die Gedan­ken der Toch­ter. Wie­so soll ich ihr ihre Mei­nung aus­re­den? Wie­so soll sie mei­ne Mei­nung haben? Wie­so muss denn mei­ne rich­tig sein?
Usw. das alles auf alles über­tra­gen.
Ich weiß über­haupt kein biss­chen, wie die Men­schen da unten ihr Leben und meins fin­den.

Und als ich das erken­ne, ist es unan­ge­nehm und ange­nehm und weil sich das auf­hebt, ist es eben wie es ist.
Nachts wache ich auf, weil die Hun­de strei­ten. Ich ste­he auf und schrei­be.
Ich habe fünf­tau­send Gedan­ken.

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Antworten

  1. Avatar von Corinna Coco via Facebook

    Indi­en ist ein­fach inten­siv und so viel­fäl­tig.
    Die Emo­tio­nen die die­ses Land in einem her­vor­ru­fen sind ein­fach son­der­bar und ein­ma­lig

  2. Avatar von Susanne Spies-Löser via Facebook

    Ich glau­be, das rea­le Indi­en hin­ter­lässt in jedem von uns zwie­späl­ti­ge Emp­fin­dun­gen, Gedan­ken­cha­os, Rat­lo­sig­keit…

  3. Avatar von Volker Knim via Facebook

    Biß­chen wie im Zoo. Oder im gol­de­nen Käfig.

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