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Ich erwachte in der dunklen Nacht über Südostasien. Die Boeing 747–400 der Qantas ging über Singapur nach Sydney. Langer Flug, reine Zeit in der Luft: 21 Stunden und 15 Minuten. Fahles Licht, irgendwas zwischen Weiß und Grün, meine Haut sah krank aus. Innenreihe, aber immerhin am Gang. Mein rechtes Bein sammelte blaue Flecken, immer wieder stießen Passagiere oder die Trolleys der Stewardessen dagegen. Nur die Beschaffenheit des schlauchförmigen Innenraums mit seinen Sitzreihen und dem Gang erinnerte an ein Flugzeug. Hier und dort saßen Asiaten mit schlecht sitzenden Hemden, abgeklärten Blicken und Goldschmuck. Ansonsten sehr viele Backpacker und andere junge Menschen, die sich für Australien entschieden hatten. Zum Aussteigen, zum Auswandern, zum Träume erfüllen.
Wenn unsere Träume sich erfüllen, haben wir verloren. Wo habe ich das nun wieder her? Keine Ahnung, von irgendwem gelesen. Was ich daran nachvollziehen kann, ist die Idee, dass wir Träume brauchen, um zu leben. Wenn man einen Traum hat, dem man hinterher hechelt, ist man motivierter, all den Stumpfsinn und die Routine des Alltags in Kauf zu nehmen. Wenn wir diese Ziele aber erreichen, wo bleibt dann das Ziel? Ich hatte lange Jahre davon geträumt, nach Australien zu reisen. Nie erfüllt, hauptsächlich – und das fällt mir heute, mit reichlich Abstand zu meinem damaligen Ich – schwer, zuzugeben: aus Angst. Ich hatte nicht genügend Courage, ich war noch nie allein unterwegs gewesen. Nun aber passte die Situation und ich hatte meinen inneren Schweinehund nicht überwunden, sondern ausgetrickst, indem ich ihm versicherte, dass ich das Unternehmen jederzeit wieder abbrechen könnte. Geplant war ein halbes Jahr, und diese Zeitspanne muss mir damals in diesem Flugzeug wie eine Ewigkeit vorgekommen sein. Doch alle Aufregung zuvor, all das Zittern und die Übelkeit vor dem Start, waren nun vergessen, als wir zur Zwischenlandung in Singapur ansetzten. Ich war ruhig und alles schien wie in Trance abzulaufen.
In Singapur hatte ich mich zwei Stunden mit einer Inderin unterhalten, die unterwegs in ihre Heimat war, um dort weiter ihr Studium in den Sand zu setzen, wie sie es nannte. Ihre Schönheit und ihre offene, direkte Art – beides ein krasser Gegensatz zu der müden Monotonie des Fluges – schüchterten mich ein und ich sah mehr auf ihr Kleid als in ihre Augen. Wir redeten also, aber sie hatte ihre Uhr nicht umgestellt, und dann war es geschehen: Gate closed, Flieger verpasst, was für eine Scheiße. Es tat mir leid und ich entschuldigte mich endlos, mein Englisch stockend vor lauter Müdigkeit. Sie aber lachte und sagte, das passiere ihr nicht zum ersten Mal und dass sie jetzt wohl einen neuen Flug suchen gehen müsse. Sie war kaum älter als ich, vielleicht 24 oder 25. Sie imponierte mir derart und verdrängte – ohne, dass ich es damals realisiert hätte – noch mehr meinen inneren Schweinehund und mein altes, zögerndes, ängstliches Ich.
Der nächste Start, Abflug in Singapur, Ortszeit 23 Uhr 20. Dahin dämmern, ich bekam die Inderin nicht aus dem Kopf. Schon begann ich zu fantasieren: Ich verlasse gemeinsam mit ihr das Terminal in Sydney, wir begeben uns in ein romantisches Hotel mit Hafenblick, sie schließt die Vorhänge und zieht sich aus, um zu duschen; im gold-warmen Sonnenlicht, das durch den Fensterspalt ins Zimmer dringt, sehe ich ihre Brüste und ihre seidene, wunderbar braune Haut… Bevor meine Fantasie mehr Erotik malen konnte, wurde ich geweckt. Mein Sitznachbar musste zur Toilette, ich stand auf, streckte kurz meine Beine und meinen Rücken auf dem Gang und ließ mich wieder auf meinen Sitz nieder. Noch trennten uns sieben Stunden von der Ankunft auf australischem Boden. Später gab es ein lausiges Brötchen zum Frühstück, mit der Konsistenz eines Gummiballs, absolut ungenießbar. Dann beginnendes Tageslicht vor den schmalen Fenstern, Schaukeln und zunehmender Druck auf den Ohren. Das Flugzeug verlor langsam an Höhe. Dank meines Sitzplatzes in der Mittelreihe bekam ich kaum etwas mit, konnte aber hören, wie einige der Passagiere an den Fenstern aufgeregt auf Fleckchen oder Gebäude am Erdboden zeigten und ihr Privileg auskosteten, als Erste etwas vom Fünften Kontinent zu erhaschen.
Danach geschah alles wie in einem Fluss, in einer merkwürdigen Traumsequenz – Szenen eines unter Drogen angeschauten Spielfilms. Das Treten ins Freie und zum ersten Mal die stechende, so viel intensiver strahlende Sonne der südlichen Hemisphäre auf der Haut. Bereits jetzt, morgens um 7 Uhr, Schwitzen und die Kleidung wechseln. Die Fahrt in die Innenstadt mit einem Minibus verstärkte das merkwürdige Gefühl, einer Traumsequenz beizuwohnen. Das Problem war, dass ich nicht ankommen wollte. Oder es besser gesagt nicht konnte. Der Flug war zu lang gewesen, die Vorfreude zu groß. Zombiartig bewegte ich mich, blickte auf das Straßengewirr der Highways, auf die ersten Hochhäuser, auf die flacheren Wohngebäude. Die Autos fuhren links, einige ältere Männer auf den Bürgersteigen trugen tatsächlich Kniestrümpfe in schottischem Karomuster zu kurzer Hose. Aber es war nichts mit Traumerfüllung, es regte sich keine Erregung der Ankunft in mir, die ich doch erhofft – oder sogar eingeplant – hatte.
Wir betraten unser Hostel und um uns herum die Nachfolger der originalen Hippie-Bewegung – braungebrannte Typen mit Dreadlocks, Surfer mit tätowierten Oberarmen in Unterhemden und mit sonnengebleichten, blondesten Haaren; Mädchen mit Ringen in der Nase oder in der Zunge – oder in beidem und dazu noch in Lippen; womöglich nicht nur in den sichtbaren? Das machte es nicht einfacher, das Ankommen. Ich vermisste meine Inderin, die gar nicht meine war, nahm eine eiskalte Dusche in einer schmalen, mit Kunststoff ummantelten Kabine – die mich an Hallenbäder in Deutschland denken ließ. Dann betraten wir mit mehreren die Straßen und marschierten einfach drauf los. Schließlich wurde mir doch auf ganz banale, und zugleich spektakulärste Weise klar, dass ich mich weit weg von Zuhause befand. Die Sonne wanderte in die falsche Richtung, sie stand nun – zur Mittagszeit – im Norden. Dies beflügelte schon ein wenig mehr und ließ meine Aufmerksamkeit steigen. Ich wurde wacher. Doch weiterhin wirkte alles um mich herum wenig exotisch, kaum fremdartig. Mehr wie ein England mit Palmen. Oder so etwas.
Da half es mir, an die Vergangenheit und an den Beginn der Besiedlung dieses Kontinents durch die westlichen Eroberer zu denken. Zwischen all den Häusern, Wolkenkratzern, Fähren, Bussen, Brücken, Schiffen, Villen und Parks – die alle Namen haben – musste ich daran denken, dass all diese Dinge damals, vor über zweihundert Jahren, keine Namen hatten. Was dort lag, war Natur, Land, Landschaft, die sich vorschrieb als Umgebung, als Schicksal. Alles muss damals für die ersten Briten, die es sahen, fremd gewesen sein, die Bäume, die Gerüche, das Unangetastete, das Unbewohnte. Es war möglicherweise das letzte Mal in der Menschheitsgeschichte, das so etwas passierte, und dieser Gedanke ist zugleich unwiderstehlich und traurig. Das ist nie mehr möglich. Selbst, wenn Menschen eines Tages den Mond oder den Mars besiedeln sollten; selbst diese Planeten sind auf dem Papier längst gesehen, also kartiert, worden.
So blieb Sydney in diesen ersten Stunden also einfach eine Millionenstadt an hundert Buchten. Lebhaft, eine Metropole am anderen Ende der Welt, von klarer Seeluft durchweht, geatmet von den Nachkömmlingen, den Südländern. Doch das Fernweh, die Sehnsucht nach der Mohrrübe namens Australien, die so lange vor meiner Nase gebaumelt war, wurde nicht gestillt. Noch nicht.
Am Darling Harbour entschieden wir uns, das Festland zu verlassen und den größten Naturhafen der Erde vom Wasser aus zu erkunden. Auf dem Element, von dem dieser Kontinent so viel zu bieten hat. Jedenfalls drum herum, bei über 30.000 Kilometern Meeresküste. Im Innern sieht es ganz anders aus, aber noch waren wir hier, auf Meerwasser mitten in einer Stadt. Der Fahrtwind erweckte neue Aufmerksamkeit, ich wurde wacher und ein wenig aufgeregter. Doch diese Häusermassen am Ufer hätten auch in Südeuropa oder Nordamerika stehen können, noch fehlte mir die lang ersehnte Ankunft. Dann bogen wir um die nächste Landzunge und ich erstarrte in meiner Bewegung. Von weitem sahen wir die Oper. Manche Gebäude lassen die Zeit stillstehen. Ich blieb stehen, in meinen Füßen eingefroren. Hundertmal hatte ich dieses Gebäude auf Fotos oder im Fernsehen gesehen, ich kannte es doch schon? Es war eine Art Manifestation dieses jahrelangen Traums, eine Art Ziellinie, die es zu erreichen galt. Nun war ich angekommen und es machte Klick. Die Oper war aus den Fotos gefallen, sie war Raum geworden. Nun stand sie dort am blauen Wasser, mit geblähten Segeln und Flügeln. Eine Art Akropolis für kommende Jahrhunderte, ein mythischer Bau, mehr eine Person als ein Konstrukt. Als wir später an Land gingen, umkreiste ich sie mit der Begierde des Anbeters. Mich endlich von ihr loszureißen gelang mir nur, um sie auch von oben, von der majestätischen Harbour Bridge aus, zu betrachten.
Die Brücke mit ihren zwei Fußgängerwegen an der Außenseite war genau das Richtige. Ich konnte die ersten Eindrücke sacken lassen und eine der schönsten Aussichten genießen, die ich mir in einer Stadt überhaupt vorstellen kann. Am Ufer abermals die weißen Segel der Oper, rechts der Circular Quay. In jener Bucht, der Sydney Cove, legte 1788 die First Fleet an und die Geschichte, das Schicksal dieses Kontinents, nahm seinen Lauf. Dort oben stand ich nun also und schaute zum ersten Mal seit unserer Landung am frühen Morgen mit offenen Augen auf diesen so weit entfernte Stadt, ich der ich mich nun wirklich, wahrhaftig, befand. Ich sah in die künftigen Monate, ohne zu ahnen, was mir alles bevorstand. Noch wusste ich nichts von der Orangenernte, für die ich keinen Cent bezahlt bekäme, von dem heißesten Silvestertag meines Lebens bei 43 Grad, von den grasenden Kängurus im Abendlicht, von all den Menschen, die mir begegnen und mich teilweise mein weiteres Leben lang begleiten würden. Noch lag alles weiß und leer vor mir und schrie geradezu danach, mit Erlebnissen und Geschichten beschrieben zu werden.
Und ich? Ich blickte nochmals auf die Oper, dann auf das Wasser. Drehte mich um und ging entschlossen in Richtung Ufer. Hinter mir schien jemand erfreut zu winken und ein wenig neidisch hinterher zu blicken. Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer dort stand. Es war mein innerer Schweinehund.
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(y)
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