Graue Wolken über Stockholm

Die Punk­te auf der Rau­fa­ser­ta­pe­te ver­schwim­men schon wie­der. Der gelb­lich-graue Strei­fen – Dreck? Insek­ten­sek­t­ret? Sper­ma? – erscheint mir mit jeder Minu­te mei­nes Star­rens dicker zu wer­den. Das Brum­men der alten Zen­tral­hei­zung lässt mich hin­weg­dö­sen, doch ich kann nicht ein­schla­fen. Der Fern­se­her berie­selt das klei­ne Hotel­zim­mer ton­los, den habe ich abge­schal­tet. Mein Han­dy fest ver­an­kert in der Lin­ken, star­re ich unge­fähr alle 5 Minu­ten auf das Dis­play. Ob sie doch noch geant­wor­tet hat?

Es ist Novem­ber. Eini­ges ist in den ver­gan­ge­nen Wochen bei mir schief­ge­lau­fen. Freun­din weg. Stu­di­um been­det, wobei aber noch ein elem­ta­rer Teil fehlt – die schrift­li­che Abschluss­prü­fung. Und gera­de jährt sich der Todes­tag einer alten Freun­din. Ich hat­te gedacht, ich kann all dem bes­ser begeg­nen, wenn ich ihm woan­ders begeg­ne. In Stock­holm. Vor eini­gen Jah­ren war ich hier, im Som­mer, wohl­ge­merkt; und es war wun­der­bar. Nun haben wir Novem­ber. Und die Son­ne geht um 9 Uhr auf. Um 15 Uhr ist sie unter­ge­gan­gen, dann ist es wie­der stock­dun­kel.

Novem­ber. Es gibt einen Grö­ne­mey­er-Song über ihn. Ken­ne ich gar nicht. Dort heißt es:

Regen fällt scharf, Bäu­me asch­kahl
Ist wie­der mal Novem­ber
Jeder Zweig schreit, Frost macht sich breit
Wen er nicht trennt, trennt sich nie mehr

Getrof­fen.
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Stock­holm. Ange­ord­net auf Inseln, kal­te, kla­re Win­ter­luft. Und ein Kopf, der sich inner­lich zu einem Hau­fen Staub zer­rei­ben möch­te. Seit zwei Wochen kei­ne ruhi­ge Minu­te, nur Den­ken, Den­ken, Den­ken. Gam­la stan, die Alt­stadt, wür­de die­sen Strom aus Gift und Unter­gangs­stim­mung schon irgend­wie auf­hal­ten. Dumm nur, dass die Alt­stadt vie­le Kilo­me­ter weit weg von mei­ner bil­li­gen – güns­tig wäre ein zu wert­vol­les Adjek­tiv – Abstei­ge liegt. Die­se paar Qua­drat­me­ter sind heu­te am ers­ten Abend mei­ner Rei­se mei­ne Zel­le, mein Gefäng­nis. Ich schaf­fe es gar nicht erst vor die Tür, ernäh­re mich von über­teu­er­ten Nya­kers Kek­sen und über­teu­er­tem Was­ser aus dem über­sau­be­ren Auto­ma­ten.

Ich schlep­pe mich ins Bad. Bevor unter Annä­he­rung der Spie­gel beschlägt, erin­nert er mich an mein Gesicht. Ein­ge­fal­len und grau. Der schwarz ver­kleb­te Luft­ab­zug an der Decke hat eben­falls bes­se­re Tage gese­hen, in die­sem Punkt schen­ken wir uns nichts. Wir sind alle aus dem glei­chen Mate­ri­al. Zurück in den eigent­li­chen Raum. Ein Wer­be­pro­spekt über Aus­flü­ge durch die Schä­ren, ein Schreib­block, Pro­spek­te mit Möbeln made in Swe­den… die Kek­se haben einen rau­hen Film in mei­nem Hals hin­ter­las­sen. Ich spü­le ihn mit Wod­ka hin­un­ter. Dabei mag ich Wod­ka nicht beson­ders, nicht mein Drink. Aber es gab ihn neben dem Auto­ma­ten zu kau­fen. Ein Blick auf das Han­dy­dis­play. Ver­dammt. Wie­der nur zehn Minu­ten ver­gan­gen. Gera­de ein­mal vier­tel vor acht. Seit nahe­zu fünf Stun­den Abend /​ Nacht in Stock­holm. Lan­ges Dun­kel, kur­zes Hell. Grau­es Hell.
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Mor­gen. Ich raf­fe mich auf und gehe mit Musik in den Ohren die vie­len Kilo­me­ter Rich­tung Innen­stadt, schließ­lich die Sil­hou­et­te des Kungli­ga slot­tet vor mir. Früh­stück. Der Kaf­fee wärmt mich und hilft. Was nun? Schlen­dern. Zur Halb­in­sel Djur­gar­den, mit dem zu die­ser Jahres(un)zeit geschlos­se­nen Ver­gnü­gungs­park Grö­na Lund. Und dem Vasa­mu­se­um. Hier gibt es etwas Erstaun­li­ches. Ein kom­plett erhal­te­nes Schiffs­wrack, in sei­ner vol­len Grö­ße und Macht – und doch ver­fal­len und daher macht­los, sei­ne Zeit ist vor­über. Ein Schelm, wer dabei an sich selbst denkt. Ich Schelm.

Die Vasa. Wie war sie unter­ge­gan­gen? War­um ist sie bis heu­te so gut erhal­ten? Im August 1628 setz­te ein impo­san­tes Kriegs­schiff Segel, um aus dem Stock­hol­mer Hafen, benannt nach dem Wap­pen der regie­ren­den schwe­di­schen Königs­dy­nas­tie Vasa. Um die­sem fei­er­li­chen Ereig­nis Nach­druck zu ver­lei­hen, wur­den Salut­schüs­se aus den Kano­nen­pfor­ten ent­lang der Schiffs­sei­ten abge­feu­ert. Als sich das mäch­ti­ge Schiff lang­sam der Hafen­ein­fahrt näher­te, wur­de es plötz­lich von einer Wind­böe erfasst. Die Vasa kräng­te, rich­te­te sich jedoch wie­der auf. Nach einer zwei­ten Böe ken­ter­te das Schiff. Was­ser drang durch die offe­nen Kano­nen­pfor­ten ein. Die Vasa sank bis auf den Grund. Min­des­tens drei­ßig Besat­zungs­mit­glie­der kamen ums Leben. Genau 333 Jah­re spä­ter erblick­te die Vasa wie­der das Tages­licht. Die Erhal­tung und Pfle­ge der Vasa ist eine anhal­ten­de Auf­ga­be. Für ihre Kon­ser­vie­rung ist ein sta­bi­les Kli­ma unab­ding­bar. Daher die ange­neh­me Tem­pe­ra­tur, als ich mei­ne Run­den um das Schiff dre­he. Doch wie sehr ich auch ver­su­che, mich auf die Fak­ten und den Anblick vor mir ein­zu­las­sen, ich schei­fe ab und bin ein Häuf­chen Elend.

Mein Spa­zier­gang führt mich ent­lang des Was­sers, Stock­holm liegt in einem Dunst aus Sprüh­re­gen zu mei­ner Lin­ken. Mei­ne Schrit­te knir­schen in den Kie­seln, eine Kat­ze flüch­tet vor mir auf einen alten Damp­fer. Nach einer Kur­ve hän­gen in einem kah­len, trau­ri­gen Baum bun­te Bäl­le. Ein wenig Far­be in all dem Grau. Kurz brin­gen sie mich tat­säch­lich ins Hier und Jetzt.
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Umher­wan­dern in den engen Gas­sen von Gam­la stan. Die Wach­b­lö­sung am könig­li­chen Schloss, oder wie das heißt, habe ich ziel­si­cher um zehn Minu­ten ver­passt. Statt­des­sen eine Grup­pe Ita­lie­ner, die sich breit grin­send vor den uni­for­mier­ten Wach­pos­ten mit ihren Han­dys foto­gra­fie­ren. Sie haben etwas Unter­hal­tung gefun­den. Ich fin­de einen Buch­la­den. Stö­be­re bei den deut­schen Klas­si­kern, die hier in Ori­gi­nal­spra­che aus­lie­gen. Was soll das denn? Ich lese über­haupt kei­ne Klas­si­ker. Eine obsku­re Form von Heim­weh? Über eine Stun­de sit­ze ich im Laden, bewe­ge mich nicht vom Fleck. Drau­ßen beginnt es aber­mals zu Däm­mern. Kein Ent­rin­nen. Am Jakobs­gatan wur­de für die Vor­weih­nachts­zeit eine Schlitt­schuh­lauf­bahn errich­tet, unter frei­em Him­mel. Mit Musik. Glück­li­che Schwe­den glei­ten zu glück­li­chen Klän­gen über die Eis­flä­che. Lan­ge kann ich nicht blei­ben. Ich muss zurück in mein grau­es Zim­mer.

Ich lie­ge noch nicht lan­ge auf dem Bett und star­re auf die Fle­cken, da beginnt ein Röcheln im durch eine schall­durch­läs­si­ge Wand gut hör­ba­ren Neben­zim­mer. Es wird gefickt. Na klas­se, genau die Geräusch­ku­lis­se, die mir zum Röcheln der Hei­zung noch gefehlt hat. Ob ich mich beschwe­ren soll­te? Irgend­wo lag doch die Ser­vice-Num­mer der 24 h besetz­ten Rezep­ti­on… Moment mal. Ja, da ist sie. Aber nein, das kann ich nun wirk­lich nicht brin­gen. Ich wer­de nicht dar­auf ein­ge­hen. Ich wer­de nicht so weit durch­dre­hen, nich über Sex im Neben­zim­mer zu kla­gen. Nein. Ich nicht.

“Hej. This is room No. 48.”
“Is the­re a pro­blem?”
“Well, in the room next door the guests are fuck­ing. Real­ly annoy­ing.”
“…”
“Hel­lo?!”
“Yes, sir. Ehm, in which room is the cou­ple?”
“Excu­se me?”
“In which room the noi­se is too loud?”
“Ehm.. I don’t know actual­ly.”

Tie­fer geht es heu­te nicht mehr. Und alles nur, weil ich nicht dar­auf geach­tet habe, wie die Num­me­rie­rung der Zim­mer ver­läuft. Ist dort die 47 oder 49? Oder die 50 oder 46? Unge­lös­te Welt.
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Ich schla­fe ein, herr­lich. Träu­men für Fort­ge­schrit­te­ne. Bis heu­te kann ich mich nicht genau erin­nern, was im Traum alles umher­spuk­te, aber es war nichts Ange­neh­mes. Der kom­men­de Mor­gen zur Abwechs­lung mal Grau, Nie­sel­re­gen. War­um bin ich über­haupt hier her gekom­men? Anstatt weni­ger über alles nach­zu­den­ken, den­ke ich mehr. Ich tue nichts ande­res mehr.

Aber viel­leicht ist es genau das, wofür die gan­ze Sache hier gut ist. Ab dem Mit­tag blei­be ich in einer Knei­pe namens “The fly­ing elk” kle­ben. Der fliegt dann auch mehr und mehr, je län­ger ich trin­ke. Um mich her­um viel Eng­lisch zu hören, ab und an Schwe­disch. Es ist Sonn­tag, vie­le Wochen­end­be­su­cher sind nach Stock­holm gekom­men. Der Fisch zum Mit­tag schmeckt, ab dem vier­ten Glas Bier stellt sich eine leich­te Beru­hi­gung in mir ein. Ich habe einen Notiz­block dabei, ver­su­che etwas zu zeich­nen. Schrei­be dann doch nur Stich­punk­te auf. Was mich in den kom­men­den Wochen erwar­tet, was ich tun muss. Los­las­sen. Wäre es nicht so schwie­rig, könn­te man mei­nen, das Leben sei ein Kin­der­spiel. Oder eine ewi­ge Rei­se, immer wie­der Ankom­men, immer wie­der Los­las­sen.
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Nun, es ist gut gegan­gen. Inzwi­schen wir­ken die Tage von damals wie ein Thea­ter­stück auf rie­si­ger Büh­ne. Eine Vor­füh­rung in Sachen Depres­si­on, Selbst­zwei­fel, Zukunfts­angst. Lost. Der Begriff passt noch am ehes­ten, um die Zeit zu beschrei­ben. Aber wenn es so etwas wie ein Thea­ter­stück war, dann gab es zumin­dest die­sen einen, im Nach­hin­ein ent­schei­den­den Moment. Sonn­tag, spä­ter Nach­mit­tag. Aber nacht­dun­kel. Ich ver­las­se den flie­gen­den Elch, gehe Rich­tung Was­ser. Ich höre Sigur Rós beim Gehen, und star­re auf mei­ne Schu­he. Dann aber bli­cke ich doch nach vorn, nach oben. Genau in dem Moment, als die Strei­cher im Lied sanft ertö­nen, der Rhyth­mus mich umarmt, die Musik mich also voll­kom­men ruhig macht, schim­mert ein roter Strei­fen am dun­kel­blau­en Him­mel. Der dür­re Mond blitzt über die­ser Stel­le auf, die Lich­ter am fer­nen Ufer spie­geln sich in den Schä­ren. Ich atme ein. Atme aus. Und ganz kurz – bei allem Den­ken, Fürch­ten und Selbst­mit­leid – spü­re ich, dass alles gut ist. Dass es wei­ter geht. Und dafür war Stock­holm im Novem­ber dann doch genau das Rich­ti­ge. Auch, wenn es viel Grau gab.

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Antwort

  1. Avatar von Daniela

    Ein sehr schö­ner melan­cho­li­scher Text. Ich bin über­rascht, wie ähn­lich sich Schick­sa­le ent­wi­ckeln kön­nen. In mei­nem Fall war es ähn­lich: das Stu­di­um been­det, Angst vor der Zukunft und der lang­jäh­ri­ge Freund macht Schluss. Bäm! In mei­ner Ver­lo­ren­heit dach­te ich, dass mich ein Urlaub im Hotel Sei­ser Alm auf ande­re Gedan­ken bringt. Kurz vor Weih­nach­ten? Mit lau­ter glück­li­chen Paa­ren und Fami­li­en um mich rum? Das hät­te ich mir kaum fal­scher vor­stel­len kön­nen! Zum Glück haben mich die net­ten men­schen dort dann doch noch auf ande­re Gedan­ken gebracht. Und ein Son­nen­auf­gang über den Ber­gen hat mir wie­der Mut gege­ben. 🙂

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