Die Berliner und ihr Stadtteilpatriotismus

Der Ber­li­ner legt sehr viel Wert dar­auf, wo er wohnt. Er und sein Wohn­ort sind untrenn­bar mit­ein­an­der ver­bun­den und er begreift sein nächs­tes räum­li­ches Umfeld als Erwei­te­rung sei­ner Per­son. Eine Denk­wei­se, die man sonst nur bei Natur­völ­kern und Cam­ping­platz­war­ten fin­det. Selt­sa­mer­wei­se hal­ten Zuge­zo­ge­ne die­se geis­ti­ge Beschrän­kung für groß­städ­tisch und gewöh­nen sie sich eben­falls an. Wie ein Och­se stand ich kurz nach mei­nem Umzug nach Ber­lin im Herbst 2000 vor den abschät­zig bli­cken­den Stu­di­en­kol­le­gen, die die Leis­tung voll­bracht hat­ten, ein paar Mona­te vor mir nach Ber­lin gezo­gen zu sein und auch schon den ein­zig wah­ren Stadt­be­zirk iden­ti­fi­ziert zu haben.

»Ach, du wohnst in Mit­te?«, sag­ten sie und lächel­ten her­ab­las­send. »Tze. Naja, wenn dir das Spaß macht. Ich war frü­her auch mal so drauf.«

Hä? War Mit­te ein Stadt­teil für geis­tig Zurück­ge­blie­be­ne? Wie muss­te man denn »drauf sein«, um in Mit­te zu woh­nen? Hat­te ich da irgend­was ver­passt? Selbst wenn ich mit mei­nem Wohn­ort auf Zustim­mung stieß, fühl­te es sich selt­sam an:
»Mit­te? Find ich gut!«, hieß es dann. »Super, dass es noch Leu­te gibt, die sich das trau­en. Und die das auch zuge­ben.«
Ich war schwer irri­tiert. Es ging hier doch nur um einen Wohn­ort, nicht um die Mit­glied­schaft im Ku-Klux-Klan. Trotz­dem gab es dafür ent­we­der schul­ter­klop­fen­de Zustim­mung oder ver­ächt­li­che Ableh­nung. Nichts dazwi­schen.

Mir begeg­ne­te die­ser Stadt­teil­pa­trio­tis­mus immer öfter, nicht nur bei Bekann­ten, son­dern auch in der Popu­lär­kul­tur. 2003 tauch­te ein bis dahin unbe­kann­ter Musi­ker namens P.R. Kan­ta­te auf, sang auf Kreuz­ber­ge­sisch, dass er in der Nähe des Gör­lit­zer Parks woh­ne (»Oh Mann, ick wohn ja nur Gör­läh, Gör­läh«) und ver­schwand wie­der in der Bedeu­tungs­lo­sig­keit. Kreuz­berg war begeis­tert. End­lich sagt mal einer, dass er auch in Kreuz­berg wohnt! Unglaub­lich! Das glei­che Prin­zip, das spä­ter den Regio­nal­kri­mis zu Regio­nal­erfolg ver­hel­fen soll­te, war bei die­sem Lied am Werk: Der Kon­su­ment kann den­ken: »Die Ecke kenn ich!«, und darf sich für einen kur­zen Moment so füh­len, als sei er der Mit­tel­punkt der Welt. Das mag der Ber­li­ner.

Berlin-Satire

Noch deut­li­cher trat das Phä­no­men im Doku­men­tar­film »Prin­zes­sin­nen­bad« aus dem Jahr 2007 zuta­ge. Dort wird eine der Prot­ago­nis­tin­nen sau­er, weil ihr jemand andich­tet, in Rei­ni­cken­dorf zu woh­nen. »Nie­mals! Ich komm aus Kreuz­berg, du Muschi!«, kam es aus ihr her­aus­ge­schwappt. Die­ser Satz wur­de zum Wer­be­cla­im für den gan­zen Film und bald sah man ihn auf Auf­kle­bern und Post­kar­ten. Man­che Men­schen tru­gen ihn sogar auf einem T‑Shirt vor sich her.

Der tra­di­tio­nell dumm­dreis­te Ber­li­ner Gangstar­ap schaff­te es sogar, noch eine Stu­fe her­un­ter­zu­ge­hen. Beim Rap­per Sido beschränkt sich der Hei­mat­stolz auf ein ein­zi­ges Gebäu­de, sein Hoch­haus im Mär­ki­schen Vier­tel: »Mei­ne Stadt, mein Bezirk, mein Vier­tel, mei­ne Gegend, mei­ne Stra­ße, mein Zuhau­se, mein Block /​ mei­ne Gedan­ken, mein Herz, mein Leben, mei­ne Welt reicht vom ers­ten bis zum sech­zehn­ten Stock.«
Tja. Lei­der auch nicht dar­über hin­aus. Nicht mal ein Erd­ge­schoss gibt es in Sidos Welt. Und auch kei­ne Ver­ben im Plu­ral. Beschrän­kung als Leis­tung.

Mitt­ler­wei­le ist der Stadt­teil­kult über­all, wobei die Aus­sa­ge meis­tens nicht lau­tet: »Bei uns ist es schön und wir sind nett«, son­dern: »Bei uns ist es gefähr­lich und wir sind Arsch­lö­cher«. Neu­köll­ner Hipster­mäd­chen tra­gen Stoff­beu­tel mit dem Auf­druck »Du hast Angst vorm Her­mann­platz«, am Box­ha­ge­ner Platz kann man T‑Shirts mit dem Spruch »Kei­ner ist gemei­ner als der Fried­richs­hai­ner« kau­fen und das Span­dau­er Hip­hop-Duo »Icke & Er« rappt: »S. P. A. N. D. A. U. – Ick komm aus Span­dau, Alta, wat willst du?«

Man weiß nie so genau, was die Ber­li­ner eigent­lich damit mei­nen, wenn sie ihren Hei­mat­be­zirk als Argu­ment anfüh­ren. Als Argu­ment wofür eigent­lich? Wird der Span­dau­er in der Welt beson­ders geach­tet? Woh­nen am Gör­lit­zer Park aus­schließ­lich intel­li­gen­te und gut­aus­se­hen­de Men­schen? Und wird man auto­ma­tisch auch so, wenn man an die­sen Ort zieht? Stellt man einem Ber­li­ner die­se Fra­gen, sagt er nur: »Dit ver­stehst du nich‹.«

Stimmt. Er aber wahr­schein­lich auch nicht. Er hät­te nur gern ein Distink­ti­ons­merk­mal, und bevor man mit so kom­pli­zier­ten Din­gen wie sozia­lem Milieu, Welt­an­schau­ung oder Men­schen­bild anfängt, nimmt man doch lie­ber das, was am ein­fachs­ten zu defi­nie­ren ist: »Da wo ick woh­ne. Dit is‹ dit, wo ick her­komm. Da bin ick zuhau­se. Wem dit­te nich‹ passt, der kann glei‹ jehn.« Das ist die Ber­li­ner Ver­si­on des bay­ri­schen »Mir san mir« oder »Dahoam is‹ dahoam«. Sido und Kon­sor­ten ste­hen also den »Grain­au­er Hei­mat­bu­ben« oder dem »Trio Alpen­glühn« in nichts nach und könn­ten auch gut im Musi­kan­ten­stadl auf­treten.

Und was ist da jetzt dran? Gibt’s da wirk­lich so gro­ße Unter­schie­de und wel­cher Bezirk steht wofür? Die lus­ti­ge Ber­li­ner Bezirks­pa­ra­de ist schon tau­send Mal in Stadt­ma­ga­zi­nen und auf Lese­büh­nen tot­ge­kas­pert wor­den und ich wer­de den Teu­fel tun, sie hier zu repro­du­zie­ren. Gehen Sie ein­fach hin und reden Sie mit den Men­schen. Aber Ach­tung! Miss­trau­en Sie jedem, der in die­ser Fra­ge über­trie­be­nen Eifer an den Tag legt. Und schen­ken Sie ganz beson­ders den Lügen der Kreuz­ber­ger über Fried­richs­hain kei­nen Glau­ben. Die sind nur nei­disch, weil ihr Bezirk nicht annä­hernd so schön ist wie mei­ner.

 

Das Buch Ber­lin – Sati­ri­sches Rei­se­ge­päck von Til­man Birr ist kürz­lich im Micha­el Mül­ler Ver­lag erschie­nen, die­ser Bei­trag is ein Aus­zug aus dem Kapi­tel »Mein Block«.

 

Berlin_Satirisches-Reisegepäck-400

 

Pres­se­stim­me

»Birrs Ber­lin ent­de­cken Tou­ris­ten sel­ten. Er schlen­dert nicht durch Char­lot­ten­burg, Schö­ne­berg oder Pan­kow, nein, er wagt sich gleich nach Span­dau. Und notiert: ›Jede ande­re deut­sche Stadt, die so dünn mit Kul­tur ver­sorgt wäre wie Span­dau, wäre nach ein paar Gene­ra­tio­nen ent­völ­kert oder wür­de sich selbst an einen chi­ne­si­schen Inves­tor ver­kau­fen.‹ […] Dan­ke, der Mann ist ein­ge­bür­gert.« Der Tages­spie­gel

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Antworten

  1. Avatar von Jürgen Frankenberger

    Sido wohnt nun außer­halb in einer gro­ßen Vil­la.

    Habe lan­ge am Gör­lit­zer Bahn­hof gewohnt – kei­ne Gegend mehr für klei­ne Kin­der.

    Zehn Jah­re am Kot­ti gewohnt mit schlim­men Stra­ßen­schlach­ten der SO36 – Sze­ne damals. Graue Wöl­fe und Lin­ke Tür­ken haben sich gegen­sei­tig mäch­tig ver­prü­gelt – ein Leh­rer wur­de getö­tet. Dann ging im Neu­en Kreuz­ber­ger Zen­trum eine Bom­be hoch. So bin ich qua­si als Flücht­ling in der eige­nen Stadt nach Ste­glitz geflüch­tet.

    Ach so – aus Bay­ern bin ich geflüch­tet, weil ich als jun­ger Redak­teur was gegen Strauß geschrie­ben hat­te.

    Also »Refu­gees well­co­me« und »Herz statt Het­ze« gera­de in Ber­lin.

    Frü­her soll es in Ber­lin Leu­te gege­ben haben, die zwi­schen Geburt und Tod ihren Kiez nie ver­las­sen haben – sagt mein Fri­seur !

  2. Avatar von Ela

    Ohh das ken­ne ich auch sehr gut aus mei­ner Ber­lin-Zeit 😉 Ich hab den Vogel abge­schos­sen indem ich in Lich­ten­berg gewohnt habe. Wooooo? Alles außer­halb des Rings kennt man ja als hip­per Ber­li­ner nicht mehr… Und wenn man dann drauf kommt, dass das »irgend­wo im Osten« ist, wird erst recht die Nase gerümpft. Die­se Stadt-Vier­tel­po­li­tik fand ich auch immer ziem­lich albern, aber gehört wohl zu Ber­lin dazu…
    Lie­be Grü­ße,
    Ela

  3. Avatar von David von fernwehnachwelt.de

    Haha das erin­nert mich an mei­ne Schwes­ter die frü­her in Neu­kölln gewohnt hat und da stolz wie bol­le drauf war, mitt­ler­wei­le wohnt sie in Lich­ten­berg und ist wie­der stolz wie bol­le 🙂

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