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Ich muss sagen, eine Fahrt durch den Kaukasus hatte ich mir irgendwie ruckeliger vorgestellt. Doch in Borjomi hatte uns weder eine Pferdekutsche noch ein Pick-up mit offener Ladefläche abgeholt, sondern ein geräumiges schwarzes Gefährt einer englischen Automarke, inklusive Ledersitzen, Kamera zum rückwärts Einparken und dezent mafiöser Ausstrahlung. Eine Tour zum Felsenkloster Vardzia steht auf dem Programm, einer der bekanntesten Sehenswürdigkeiten im Süden Georgiens, in der schwer aussprechbaren Region Samzche-Dschawachetien, im Gebirge des Kleinen Kaukasus. Das Auto wird am Ende des Tages nicht mehr das einzige sein, das mich verwundert – stattdessen werde ich hier wieder einmal feststellen müssen, dass man auf Reisen allerhöchstens das Unerwartete erwarten kann.
Mit ihren klobigen Türmen, den goldenen Kuppeln und den akkurat geschnittenen Zypressen im geometrisch angeordneten Garten erinnert mich die Festung Rabati, unser erster längerer Stopp, an eine etwas weniger leichtfüßige Version der Alhambra. Irgendwie passt das, ein allzu verspieltes und dekoriertes Gebäude hätte vor der Kulisse der scharfkantigen Gipfel des Kaukasus merkwürdig ausgesehen, und doch setzt sich die zur Zeit der osmanischen Eroberung erbaute Anlage merklich ab von den wuchtigen georgischen Kirchen und den eng aneinandergereihten Häusern in der Umgebung. Der Kaukasus, das klingt für mich nach Menschen, die irgendwo im Nirgendwo auf Pferden durch eine Hochebene preschen, nach einem Ort, an dem der Pragmatismus regiert, an dem die pure Lebensfreude einfach keinen Platz hat. Und doch ist hier in Rabati scheinbar ein bisschen Luftigkeit, ein bisschen Verschnörkelung erlaubt. Vielleicht ja, weil wir hier nur im Kleinen Kaukasus sind.
Bald geht es in unserem Luxus-Auto weiter und wir nähern uns der türkischen Grenze. Rechts und links Bergpanorama, über gleißende Sonne. Die Umgebung ist vor allem karg, nur vereinzelt stehen Gruppen von Bäumen in der grünlich-grauen Felswelt. In den schattigen Hängen hält sich hartnäckig der Schnee. Manchmal kann man ganz oben auf den Gipfeln einzelne Häuser erkennen, ganz alleine und ohne eine Straße, Seilbahn oder auch nur einen Strommast, der hinaufführt. Wer dort wohl leben mag?
Zwischendurch halten wir an zwei Häusern mit Brunnen, weil laut unserem Fahrer das Wasser dort ganz besonders gut ist. Im Auto schweifen meine Gedanken ab, von den Gesprächen auf russisch verstehe ich ohnehin nichts. Auf einmal fahren wir langsamer, das Dachfenster fährt auf und der Fahrer dreht sich um. »Panorama! Panorama!«, meint er und ich verstehe erst mal gar nichts, bis er auf meine Kamera zeigt und ich vor uns eine Ruine ausmachen kann. Ich tue ihm den Gefallen, stehe auf und halte die Kamera aus dem geöffneten Dach, auch wenn Stromkabel im Weg sind und das Panorama eher unspektakulär aussieht. Wir steigen aus und werden erst einmal von Kühen in Empfang genommen, wohl außer uns heute die einzigen Gäste dort. Die Ruine Chertwisi, auf der wir nun herumklettern, stammt aus dem 10. Jahrhundert und ist eine der ältesten Burgen Georgiens. Da sei es ihr verziehen, dass sie nicht mehr top in Schuss ist. Ich muss mich ganz schön überwinden, den schiefen und zum Teil sehr schmalen Steinstufen zu vertrauen. Oben angekommen, schallt die Glocke durchs ganze Tal, das Läuten irgendwo zwischen jugendlichem Übermut und dieser merkwürdigen Einsamkeit, die uns hier empfängt. »Ich bin hier, wer noch?«, möchte ich rufen und weiß nicht, welche Antwort ich mir erhoffen soll.
Wenn ich mich bemühe, der Konservation im Auto zu folgen und internationale Wörter herauszuhören, muss ich manchmal grinsen. So viele Dinge sind allein über Gestik und Mimik verständlich – wir kommen beispielsweise an einem Teich vorbei, unser Fahrer nimmt beide Hände vom Steuer und nimmt sie weit auseinander. »Hier in dem Teich hab ich mal SO einen Fisch gefangen«, kann ich völlig ohne Sprachkenntnis übersetzen. Und muss mich gar nicht mehr so sehr wundern, als der Fahrer, angekommen am Felsenkloster Vardzia, unter dem praktischerweise ein kleiner Fluss entlangbraust, erst einmal eine Angel und einen Eimer aus dem Kofferraum holt.
Der Blick auf die Felswand in Vardzia ist wirklich gewaltig, und das, obwohl das Kloster nach einem Erdbeben einiges an Größe verloren hat. Kaum vorstellbar, dass hier einmal 50.000 Menschen Schutz fanden. Ein ausgeklügeltes System an Windkanälen sorgte dafür, dass alle Wohnungen stets angenehm temperiert waren, und zum Glück für die Könige damals gab es irgendwo im Höhlengewirr sogar eine Quelle, die Frischwasser für die Bewohner bereithielt. Eine richtig große Kirche mit Fresken an der Decke war ebenfalls in die Felswand eingebaut. Angesichts der damaligen Dimensionen kann man sich gut vorstellen, dass die Geschichte, die dem Kloster seinen Namen gab, auf Tatsachen beruht: Die Nichte des Königs Giorgi ging zwischen den vielen Zimmern verloren. Man suchte sie überall, konnte sie jedoch nirgends finden – es gab einfach zu viele Räume und Gänge, von denen ja die meisten auch nicht dauerhaft, sondern nur im Kriegsfall von den Bewohnern der umliegenden Ortschaften bewohnt waren. Irgendwann hörte der König jedoch ein leises »Ac vard zia«, georgisch für »Ich bin hier, Onkel!« und die kleine Nichte ward wieder gefunden. Aus »Ac ward zia« wurde dann schlicht Vardzia und aus der kleinen verlorenen Nichte wurde die Königin Tamar, die Ende des 12. Jahrhunderts über Georgien herrschte.
In Vardzia gibt es keinen Rundweg oder Pfad, dem die Besucher folgen sollen, jeder kann sich selbst aussuchen, wo er entlangklettert. Es gibt viel zu sehen: In der einen Richtung die Höhlen in ganz verschiedener Größe und Zustand, in der anderen Richtung der sagenhafte Blick auf das Gewirr von Treppen, Plattformen und Felsen, die Berge ringsum und den brausenden Fluss. Auch hier sind wir trotz der landesweiten Bekanntheit des Ortes fast alleine. Von der Hektik großer Besucherströme keine Spur, lasse ich mich treiben, setze mich auf eine Bank und genieße die Sonne.
Spannend an Vardzia sind auch die Bau- und Sanierungsarbeiten dort. Man kann quasi zusehen, wie aus dem Felsenlabyrinth, dessen Stufen und Gänge vom Wetter bröckelig geworden sind, eine touristische Attraktion wird. Geländer werden eingebaut, Stufen befestigt und gerade geschliffen, Schilder angeschraubt. Ein Bereich ist mit rotem Band abgesperrt. Wir gucken einen Arbeiter fragend an, er beschreibt mit Gesten, dass wir trotzdem dort entlang laufen sollen. Sofort merkt man, dass hier die Arbeiten noch nicht fertig sind – es ist schwer zu laufen, die Stufen sind unförmig und neben uns geht es ohne Geländer steil nach unten. In einer Höhle, die wir durchqueren müssen, gibt es kein Licht, der Gang wird immer niedriger und enger, irgendwann bin ich die einzige, die noch gerade stehen kann. Wer weiß, wie es hier in einem, in zwei, in fünf Jahren aussehen wird. Die drei Litauer, die uns auf der Tour begleiten, sind eigentlich nur im Land, weil es so günstige Flüge zwischen dem Kaukasus und dem Baltikum gibt. Was ihnen am besten gefallen hat bisher, können sie nicht sagen, eigentlich haben sie, dem hochprozentigen Tschatscha sei Dank, das meiste auch schon wieder vergessen. Gleichzeitig mit uns erkundet ein Vater mit seinem Sohn das Felsenkloster, dann zieht erst eine russische, später eine US-amerikanische Reisegruppe mit Guide vorbei, zusammengewürfelte Reisende, mehr oder weniger kulturinteressiert. Wer kommt hierher, wer sollte hierher kommen? Die, die schon alles gesehen haben? Die nach Abenteuer suchen? Die einfach mal ihre Ruhe haben möchten? Oder Chaoten wie ich, die eine Freundin in ihrem Auslandssemester besuchen, feststellen, dass diese doch studieren muss und nicht mit weiterreisen kann, und anschließend ohne ein Wort Georgisch- oder Russischkenntnisse verloren durch das Land stolpern?
Ich komme nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, denn wie wir alle wieder unten versammelt sind und auf unseren angelnden Fahrer warten, fällt uns wieder ein, was die Beschreibung der Tour noch versprochen hatte: heiße Bäder. Während die Litauer sofort Feuer und Flamme dafür sind und gar nicht mehr so richtig locker lassen, frage ich mich, wo es hier in der Umgebung heiße Bäder geben soll. Im Kopf habe ich die Art von Bädern, die auch in der georgischen Hauptstadt stehen und von denen uns die Litauer nun begeistert berichten, und die kann ich mir ziemlich schlecht hier inmitten von Felsen und vereinzelten Häusern mit Wellblechdächern vorstellen. Aber gut – wenn ich etwas auf Reisen gelernt habe, ist es, dass man immer vor allem das Absurde erwarten muss. Ich fühle mich auf alles vorbereitet – vielleicht haben sich findige georgische Reiseveranstalter ja an die günstigen Flugpreise angepasst und alles für den Ansturm der sauna- und badefreudigen Nordosteuropäer vorbereitet? Artur, dem Chef der Touri-Info in Borjomi, der uns am Tag zuvor Tour und Unterkunft vermittelt hatte und der generell scheinbar sehr viele Fäden in der Hand hält, was die Urlaubsorganisation der ganzen Region angeht, würde ich vieles zutrauen.
Wir steigen wieder ins Auto und fahren ein Stückchen in Richtung Nirgendwo. Der Fahrer verspricht uns, dass das Wasser schon eingeheizt ist. Ich schaue aus dem Fenster, in Erwartung einer pompösen Badeanstalt. Irgendwann biegen wir nach links auf einen Schotterweg ab, fahren ein paar Meter und kommen zwischen zwei Bauruinen zum Stehen. An eine davon hat jemand mit schwarzer Farbe eine Telefonnummer geschrieben, das Gebäude sieht sichtlich mitgenommen aus. Überlappende Platten aus Wellblech stellen das Dach dar, von einem Metallstab gehalten, bilden sie sogar ein kleines Vordach. Auf dem Boden davor liegt Bauschutt, Pflanzen haben sich ihren Weg durch die Steine und den Müll gebahnt. Hinter uns geht die Sonne langsam unter, die dreckigen Wände werfen lange Schatten. Das einzige Zeichen für Zivilisation ist ein dickes Schloss, das um die Tür gewickelt wurde. Unser Fahrer ist davon sichtlich überrascht und wenig begeistert, wieder Worte, die sich zumindest frei sehr einfach übersetzen lassen, und das, obwohl ich nicht mal weiß, ob er auf russisch oder georgisch flucht. Er rüttelt ein bisschen am Schloss, es fällt zu Boden. Scheinbar war bereits alles perfekt für uns vorbereitet – man wollte nur sicher gehen, dass niemand an dieser Bauruine inmitten in der georgischen Pampa vorbeikommt und den Beschluss fasst, mal spontan in eine Hütte aus bröckelndem Putz und Wellblech einzubrechen…
Wir steigen also aus, ich gehe ein bisschen zögerlich auf die Tür zu. Drinnen – nicht zu viel versprochen. Ein kleines Fenster erhellt den Raum und lässt den Dampf, der aus dem Becken aufsteigt, sichtbar werden. Eine einfache Leiter führt hinein und heraus, an einer Seite eine simple Holzbank für Handtücher und Kleidung. Alles, was man eben braucht, eingerichtet mit einer großen Portion Pragmatismus. Die Litauer lassen sich von der merkwürdigen Szenerie nicht abschrecken und steigen sofort ins warme Wasser. Ich verzichte lieber und versuche, die absurde Stimmung des Ortes auf Fotos zu bannen, begleitet von einem Hund, den ich am liebsten mit nach Hause nehmen würde. Unser Fahrer vertreibt sich die Zeit damit, in dem Bauschutt nach Brauchbarem Ausschau zu halten und den einen oder anderen Kupferdraht mit einem Messer aus einem Kabel zu befreien. Während die Litauer das Bad genießen, findet er auch noch Zeit, seinen Auspuff behelfsmäßig mit Materialien zu reparieren, die sich rund um die Bauruinen finden, und auf die Bäume dahinter zu klettern und Äpfel zu pflücken. Für ihn hat sich der Ausflug heute wohl dreifach gelohnt.
Ich stehe inmitten dieser Situation und fühle mich irgendwie mit der Welt im Reinen. Manchmal braucht man wohl Reiseziele, die einem zeigen, dass man eben doch noch nicht alles gesehen hat, dass es immer eine neue Stufe der Absurdität gibt – und dass genau das, was wir merkwürdig finden, anderen Menschen vielleicht ganz normal vorkommen mag. Und umgekehrt. Die heißen Bäder neben dem Felsenkloster Vardzia sind so eines, vielleicht ist der ganze Kaukasus dafür die richtige Adresse, und auch, wenn ich mir heute die Fotos anschaue, die Apfelbäume, die unverputzten Ziegelwände, das düstere Licht in der Mini-Badeanstalt, muss ich immer noch schmunzeln.
Antworten
Huhu! Das klingt alles sehr schön! Wir sind gerade in Georgien und suchen noch nach einem passenden Anbieter für eine Tour nach Vardzia! Wo hast du das denn gebucht? Liebe Grüße (noch vom schwarzen Meer) Steffi
Liebe Steffi, wir haben die Tour einfach in der Touristeninformation in Borjomi »gebucht« – bzw. uns wurde einfach ein Fahrer vermittelt über die Touristeninfo! Die Touristeninfo in Borjomi ist wirklich super, die Mitarbeiter sind sehr sympathisch und sprechen Englisch bzw. Deutsch. Ich wünsch dir noch ganz viel Spaß in Georgien 🙂
Vielen Dank für diesen schönen Artikel. Da musste ich auch an so mancher Stelle schmunzeln. Besonders das Verständnis ohne Sprachkenntnisse habe ich auch schon erfahren. Ich finde das immer sehr schön. Egal, wie unterschiedlich die Menschen ticken, manches ist einfach so gleich, dass man sich verstehen kann. 😀
Lg aus dem Defereggental
Danke! Ja, das finde ich auch, das ist eine gleichzeitig anstrengende und schöne Erfahrung beim Reisen 🙂
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