Mythos Patagonien

P‑a-t-a-g-o-n-i-e‑n. Ich muss das Wort nur auf­schrei­ben, schon spü­re ich das Gefühl im Bauch. Als sei ich ver­liebt. Als fan­ge jetzt etwas Neu­es an. Etwas, auf das ich mich schon lan­ge gefreut habe. Als stün­de die­ses Wort nicht für eine Regi­on Süd­ame­ri­kas, son­dern für ein Kon­zept. Ein Kon­zept, das ich nur vage beschrei­ben kann.

Irgend­was mit Auf­bruch, Frei­heit und fri­scher Luft. 

Klingt irgend­wie komisch? 

Fin­de ich auch. Die Suche nach einer Erklä­rung. 

Ladyslipper_Blume

Am Anfang war da die­se Buch­be­spre­chung, die jeder Schü­ler in der Ober­stu­fe machen muss­te. Man konn­te sich selbst ein Buch aus­su­chen und muss­te es dann vor der Klas­se prä­sen­tie­ren. Ich nahm dann am Abend »In Pata­go­nia« von Bruce Chat­win aus der Buch­hand­lung mit nach Hau­se. Über Pata­go­ni­en wuss­te ich zu die­sem Zeit­punkt fast gar nichts, außer, dass es sehr ent­le­gen und dünn besie­delt war. Doch es reich­te aus, um eine vage Fas­zi­na­ti­on aus­zu­lö­sen, die bis heu­te anhält.

Stefan in El Chalten

Nach Pata­go­ni­en rei­sen nur ech­te Aben­teu­rer, so dach­te ich. Men­schen, die Bruce Chat­win hei­ßen und nach­her Bücher dar­über ver­fas­sen. Beim Lesen des Buches erfuhr ich, dass Chat­win sei­nen Job sei­ner­zeit per Tele­gramm mit den Wor­ten »Have gone to Pata­go­nia« kün­dig­te. Coo­ler Typ, dach­te ich. Und so kam es, dass ich mehr als nur ein, zuge­ge­be­ner­ma­ßen, recht mit­tel­mä­ßi­ges, Refe­rat pro­du­zier­te: Den gren­zen­lo­sen Drang irgend­wann ein­mal nach Pata­go­ni­en auf­zu­bre­chen.

Warum geht eigentlich irgendwer nach Patagonien?

Es ist ja eine berech­tig­te Fra­ge. Die Land­schaft ist erbärm­lich karg, der Boden so nutz­los, dass höchs­tens ein paar Zwer­gen­sträu­cher dar­auf wach­sen. Das Wet­ter ist nahe­zu unbe­re­chen­bar und der Wind weht erbar­mungs­los. Wir fah­ren mit dem Auto stun­den­lang gera­de­aus, ohne dass sich etwas an dem Land­schafts­bild ändert. Mit­ten im Nir­gend­wo ste­hen kilo­me­ter­lan­ge Zäu­ne, die das Nichts in der Mit­te zu tren­nen schei­nen. Es passt genau zu den Bil­dern, die Chat­win bereits in mei­nem Kopf plat­ziert hat­te. Wer nach Pata­go­ni­en kommt, kommt gera­de wegen der Wei­te, wegen des Rau­en und Kar­gen. Und bestimmt auch wegen des wag­hal­si­gen Gefühls, dass das was man hier, ganz im Süden Süd­ame­ri­kas auf­ge­spürt hat, tat­säch­lich das Ende der Welt sein könn­te.

Patagonien See Posadas

Bei unse­rer ers­ten Wan­de­rung, ent­lang des Lago Posa­das, im Nor­den Pata­go­ni­ens kommt uns kein Mensch ent­ge­gen. Der Regen peitscht uns fron­tal ins Gesicht, und der Wind ist mit­un­ter so stark, dass ich Mühe habe mich auf den Bei­nen zu hal­ten. Genau in dem Moment, und das ist jetzt wie­der typisch ich, füh­le ich mich pudel­wohl. Genau­so hat­te ich es mir vor­ge­stellt, genau­so woll­te ich es. Die Regen­trop­fen pras­seln wie pure Lebens­en­er­gie auf mein Gesicht. Ich lau­fe allein, weil das gera­de etwas ganz beson­de­res für mich ist.

Ste­fan, jetzt bist du in Pata­go­ni­en. Wie Bruce Chat­win.

Natür­lich gibt es in Pata­go­ni­en auch soge­nann­te High­lights: den Glet­scher Peri­to Moreno, die Ber­ge Fitz Roy und Cer­ro Tor­re oder die Tor­res del Pai­ne auf chi­le­ni­scher Sei­te. Doch nur des­halb soll­te man nie nach Pata­go­ni­en kom­men. Es geht auch dar­um, die Regi­on zu durch­que­ren und Distan­zen erfahr­bar zu machen. Es scheint immer so, als fah­re man unend­lich gen Hori­zont. Weil das so typisch Pata­go­ni­en ist, legen sich immer wie­der Rei­sen­de auf die Fahr­bahn, um Fotos von der unend­lich gera­de­aus füh­ren­den Stra­ße zu machen.

Patagonienstraße

Im Nichts entdecken wir Neues

Viel Fas­zi­na­ti­on in Pata­go­ni­en geht immer von der Abwe­sen­heit der Din­ge aus. Kei­ne Men­schen, kein Han­dy­emp­fang, kei­ne Ablen­kun­gen. »Mensch, hier gibt es nichts und trotz­dem bin ich so zufrie­den.« Es ist häu­fig die­se Art von Fest­stel­lung, die am Abend, wenn man am Kamin­feu­er bei­sam­men­sitzt, die Run­de macht. Als wir am Ran­de des Lago Argen­ti­no ste­hen und beob­ach­ten wie rie­si­ge Eis­schol­len des Peri­to Moreno Glet­schers ins Was­ser stür­zen sagt eine Frau zu mir: »Ich könn­te jetzt gera­de heu­len«. Als ich sie fra­ge war­um, feh­len ihr die Wor­te. Schön ist das, den­ke ich mir: Die­se vage, schwer erklär­ba­re Fas­zi­na­ti­on für Pata­go­ni­en beschäf­tigt also nicht nur mich.

Perito_Moreno_Gletscher_2

Es wird Pata­go­ni­en sicher nicht gerecht, es allei­ne auf sei­ne Wei­te und Ödnis zu redu­zie­ren. Allein die Tier­welt ist beein­dru­ckend: Rie­si­ge Her­den von Gua­na­kos huschen direkt an uns vor­bei. Anden­kon­do­re mit Spann­wei­ten von 3 Metern krei­sen über unse­ren Köp­fen und auch Nan­dus, rie­si­ge Strau­ßen­vö­gel, sehen wir immer wie­der. Ganz im Süden Feu­er­lands, wo Ant­ark­tis-Expe­di­tio­nen star­ten, ent­de­cken wir schließ­lich Pin­gui­ne und See­lö­wen in ihrer natür­li­chen Umge­bung. Charles Dar­win war sei­ner­zeit weni­ger ange­tan. Im Rah­men sei­ner Welt­um­se­ge­lung notier­te er: »So beschränkt wie sei­ne Flo­ra ist auch die Zoo­lo­gie von Pata­go­ni­en.“

Guanacos Nandu

Guanacoherde_Patagonien

Die wun­der­sams­te Natur eröff­net sich in den Natio­nal­parks: Kal­ben­de Glet­scher im Par­que Los Gla­cia­res, die ein irres Spek­trum der Far­be Blau anbie­ten. Wie drei rie­si­ge Nadeln aus Gra­nit ragen die Berg­spit­zen der Tor­res del Pai­ne in den Him­mel. Und immer wie­der erbli­cken wir rie­si­ge, tür­kis schim­mern­de Seen. Es ist fast para­dox: Einer­seits wirkt Pata­go­ni­en karg und leer, ande­rer­seits gibt es hier Vie­les, das für mich kom­plett neu ist.

Magellanstraße Fähre

Und doch ist es die Lee­re, die mir immer in Erin­ne­rung blei­ben wird. Viel­leicht dient die­se Lee­re all den Sehn­süch­ti­gen die­ser Welt als Pro­jek­ti­ons­flä­che. Wo nichts ist, über­nimmt die Fan­ta­sie. Man fügt ein, was man möch­te. Man ver­si­chert sich der eige­nen Exis­tenz und wun­dert sich, wie gut das hier funk­tio­niert. »Nir­gend­wo ist auch ein Ort«, bemerk­te bereits Paul The­roux in Pata­go­ni­en.

Feuerland: Manches endet hier, Vieles beginnt.

Im Kon­text unse­rer Rei­se ergibt alles soviel Sinn. Da lau­fen wir jetzt im Feu­er­land umher, Aylin vor mir mit ihrem gro­ßen Regen­cape, auf dem »I love music, not rain« steht. Und plötz­lich kommt es mir so vor, als sei alles gera­de­wegs dar­auf zuge­lau­fen. Als sei­en wir bald am Ziel. Als sei­en alle ande­ren Sta­tio­nen die­ser Rei­se nur Zwi­schen­stopps gewe­sen.

Blumenpracht

Mei­ne Gedan­ken in die­sem Moment sind genau­so ambi­va­lent wie Pata­go­ni­en selbst. Sie han­deln vom Auf­bruch und vom Drang zu rei­sen, obwohl wir gera­de­wegs am Ende der Welt ankom­men.

Wel­che Aben­teu­er hält das Leben noch für mich bereit?

Und so ergibt die vage Fas­zi­na­ti­on für Pata­go­ni­en doch Sinn. Wäh­rend ich kör­per­lich am Ende der Welt ankom­me, sucht die See­le schon wie­der das Wei­te.

Vie­len Dank an Wikin­ger-Rei­sen für die Ein­la­dung nach Pata­go­ni­en & Feu­er­land!


Antworten

  1. Avatar von Frank

    Hal­lo ihr Zwei,
    Noch etwas mehr als 4 Wochen, dann beginnt für uns das Aben­teu­er Pata­go­ni­en. Als Vor­freu­de auf den Trip habe ich Euren Arti­kel mit Genuss gele­sen!

    1. Avatar von Stefan

      Hey Frank,

      hof­fent­lich war eure Pata­go­ni­en-Rei­se auch ein Genuss!

      Ganz lie­be Grü­ße!

  2. Avatar von Dani

    Sehr schö­ner Bericht.
    Feu­er­land war immer schon mein Traum. Hat was von »lands end«. Mal sehen, ob ich jemals hin­kom­men wer­de.
    Lie­be Grü­ße
    Dani

    1. Avatar von Stefan

      Vie­len Dank Dani,

      du hast es selbst in der Hand. Wenn es irgend­wie geht: nimm‹ dir Zeit und buch dir ’nen Flug – du wirst es nicht bereu­en! Wenn es immer schon dein Traum war…

      Ich wer­de die Pata­go­ni­en-Tour nie ver­ges­sen!

  3. Avatar von Von einer Reise

    Sehr schö­ner Text, Ste­fan. Tol­le Fotos, Aylin. Die Fas­zi­na­ti­on für Pata­go­ni­en ist spür­bar. Obwohl wir mona­te­lang in Süd­ame­ri­ka unter­wegs waren, haben wir es nicht nach Pata­go­ni­en »geschafft«. Aber wei­te­re Rei­sen auf die­sem rie­si­gen Kon­ti­nent fol­gen bestimmt – und dann steht Pata­go­ni­en ganz weit oben auf der Lis­te. Euer Bei­trag hat die­sen Wunsch noch ver­stärkt.

    1. Avatar von Stefan

      Hey ihr Bei­den, vie­len Dank!

      Ja, man macht sich schon ein Fass auf, wenn man nach Pata­go­ni­en geht – die Distan­zen sind nicht ohne. Man soll­te also mög­lichst viel Zeit haben um ein Gefühl für die Wei­te zu bekom­men. Falls ihr es dem­nächst nach Pata­go­ni­en »schafft«, kön­nen wir bestimmt ein paar nütz­li­che Tipps geben.

      Lie­be Grü­ße!

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