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49 Grad. Gefühlte 90% Luftfeuchtigkeit. Die Luft eine Wand. Die Kleidung klebt am Körper fest. Man sollte es ignorieren, möchte man nicht in den Wahnsinn verfallen.
Amritsar. Punjab. Nordwestindien. Die Pilgerstadt der Sikhs. Hunderttausende von Menschen aus aller Welt reisen hier her um das höchste Heiligtum der Sikhs, die Gurudwara Hari Mandir mit dem heiligen Buch Sri Guru Granth Sahib – den Goldenen Tempel zu besuchen. Und so auch wir. Unser Guide Book kennt jedoch noch einen weiteren „must see“ Tempel – den hinduistischen Mata Tempel, der sich auf dem direkten Weg zu unserem eigentlichen Ziel – dem Goldenen Tempel befindet. Den nehmen wir noch mit. Nach 2.000 km mörderischer Fahrt in sieben Tagen bei 49 Grad [nein, wir haben keine A/C] müssen wir etwas anderes sehen als indische Trucks und Busse von hinten. Wir sind heiß auf Kultur. Und uns ist heiß.
Ein Tuktuk fährt uns durch die sengende Hitze der Einmillionenstadt. Der Fahrtwind schafft eine Illusion von Abkühlung. Doch jeder kurze Stopp lässt den Schweiß treiben. Er vermischt sich mit dem faulen Geruch und dem Staub der Gassen. Schon nach kurzer Fahrt habe ich das Gefühl aus jeder Pore fürchterlich zu riechen.
Wir erreichen eine enge Gasse, in der uns der Fahrer barsch hinausbefördert. Den Tempel können wir noch gar nicht erkennen, die Straße ist dicht und eng – und stinkt. Sogleich ziehen Menschen an unserer Kleidung und wollen ihre Opfergaben verkaufen, wir drücken uns zielstrebig in eine Richtung die nach Eingang schreit. An einem streng nach Fußschweiß riechenden Bretterverschlag geben wir wie so oft unsere Schuhe ab und betreten einen feuchten, übel müffelnden, klebrigen Rollrasen, der in ein Gebäude führt, das mehr einer lauten Spielhölle als einem Tempel gleicht.
Und dann erblicken wir gar keine Spielhölle sondern eine wahr gewordene Hölle auf Erden, ein Himmelreich der Antiästhetik: der Tempel ist aufgebaut wie einer dieser Kirmes-Irrgärten, in welchen man verschiedene Kammern und Gänge betreten muss, Spiegelkabinette, Labyrinthe, Gewölbe, Rutschen und Sackgassen. Er wirkt als hätten die Bauherren zehnfach beschichtete LSD-Filzchen gelutscht, zeitgleich in flüssigem Amphetamin gebadet und sich lediglich der Neon-Farbpalette, Buntstiften und Glitzereffekten bedient. Die Ganeshas, Krishnas, Shivas und auch Buddhas dieser Welt wurden in allen Superlativen der Geschmacklosigkeit aufgehübscht. Sie tun mir leid. Ich habe noch nie zuvor so etwas Hässliches gesehen!
Hinzu kommt, dass wir uns nach fast acht Monaten auf dem indischen Subkontinent wohl zum ersten Mal aus unserer recht gedehnten Komfortzone bewegen: Der Weg des Tempels ist streng vorgegeben. Ist man einmal drin, wird man von kreischenden, selfie-ierenden Teenie-Gruppen umringt, es gibt kein Zurück. Wir kriechen also durch enge, stickige Gänge, die Füße des Vorankriechenden so nah, dass man den Dreck der Hornhautrillen begutachten kann, wir waten durch eine warme Flüssigkeit, gelblich-trüb und stark viskos, die einfach nur erbärmlich stinkt und dennoch zur Reinigung dienen soll, wir werden gezwungen, unsere Augen von ADHS-Gemälden und Bling-Bling-Skulpturen schänden zu lassen und müssen uns gegen diese spielhöllenartige Geräusch-Diarrhoe aus Krach, Musik, Geschrei und Gebimmel behaupten. [Aufgrund der Spritzgefahr gibt es hierzu leider keine Bildnachweise].
Der Tempel ist durchzogen von Glocken, Pendeln und Ratschen, deren Betätigung eines oder mehrere weitere Leben/Reichtum/Wohlstand/mehr Kinder/… [own choice] verspricht. Ich muss an diese Spielzeuge denken, die man Kleinkindern ins Gitterbettchen hängt: Ratsche, Tröte, Klingel, Walze und Glöckchen.
Eine Station schließt das Darreichen von kulinarischen Opfergaben ein. Diese werden aber trotz der fast 49 Grad niemals entfernt. Die Götter essen die leider nicht. Ich muss meinen Würgereiz aufgrund des bestialischen Gestanks mit viel Mühe unterdrücken. Peter kämpft ebenfalls.
Endlich kommen wir am Ende des Horrorkabinetts an. Man bietet uns sogleich ein kostenloses Thali an, das wir natürlich auf dem klebrigen Fußboden verspeisen sollen. Wir lehnen dankend ab. Um die Donation-Box machen wir einen Bogen. Man sollte uns bezahlen für das Überleben dieses Verbrechens an der Ästhtetik! Wir suchen den Ausgang.
Luft. Luft. Schuhe. Tuktuk. Schnell. Weiter. Zum Goldenen Tempel. Wir nutzen die Fahrt um Atem zu holen. Wir wissen nicht, ob wir lachen oder weinen müssen. War das schon so schlecht, dass es wieder gut war? Ich weiß es nicht. Aber ein Erlebnis war es. Zweifelsohne.
Wir erreichen eine weitläufige Straße, die uns zur Gurudwara führen soll. Das letzte Stück müssen wir zu Fuß gehen. Bei 49 Grad ist jeder Schritt zu viel. Doch beim Gedanken an den Mata Tempel fühlt es sich an wie ein Spaziergang durch den kühlen Herbstwald. Ich knote Peter ein Kopftuch, das wir für 10Rs. erstehen. Pflicht in einem Gurudwara. Es steht ihm äußerst gut. Und hält den treibenden Schweiß zurück.
Wir haben seit etwa einer Woche keinen westlichen Touristen mehr gesehen. Wir haben in Amritsar fest damit gerechnet. Fehlanzeige. Wir scheinen die einzigen zu sein an diesem Tag. Umgeben von tausenden von Pilgern betreten wir den Außenbereich des Goldenen Tempels. Trotz der vielen Menschen herrscht eine sehr friedliche Atmosphäre. Auch hier geben wir unsere Schuhe ab. Die ausgesprochen gute Logistik macht es möglich, dass wir dies bereits nach wenigen Sekunden erledigt haben. Schalter Nummer 10. Der Eintritt ist frei. Ungewöhnlich.
Zusammen mit unzähligen Pilgern betreten wir die riesige Anlage. Die Geräuschlandschaft ist außergewöhnlich: Verse aus dem heiligen Buch der Sikhs werden gelesen, laut und live über das gesamte Gelände gespielt. Das mantrenartige Singsang wirkt monoton, beruhigend und … unglaublich schön! Die bedingungslose Hitze, das unglaublich große, saubere, reduzierte, helle und weitläufige Areal, das weiße Mittagslicht gepaart mit diesem gewaltigen Klangteppich schafft einen unvergesslichen ersten Eindruck. Der angeblich mit Blattgold verzierte Tempel spiegelt sich im Goldenen Nektar, der den Tempel umgibt. Gläubige und Pilger baden im karpfenbelebten Gewässer. Ich beneide sie um ihre Abkühlung! Die vielen turbangekrönten Menschen verbeugen sich Ehrfurcht gebietend vor dem goldenen Gebäude. Familien mit ihren entzückend aussehenden weil Dutt-tragenden Kindern spazieren im Kreis um den zentral angelegten See, in dessen Mitte sich der strahlende Tempel befindet. Tausende von trägen Menschen ruhen, schlafen und unterhalten sich leise in den schattigen Arkaden die das Gelände umranden. Peter und ich sind überwältigt von der einzigartigen Stimmung und vergessen, dass wir in unserer Kleidung schwimmen.
Wie so oft fallen wir auf. Mein strohblonder, großer Mann nicht nur für mich wie immer ein Highlight! Bereitwillig lassen wir uns fotografieren, sind wir doch monatelang nicht mehr so nett, höflich und aufrichtig darum gebeten worden. Dass man sich uns vorstellt, uns begrüßt und mit einem aufrichtigen „Please“ um ein Foto bittet, überrascht und irritiert uns. Sind wir es doch leider aus jüngster Zeit gewohnt, gar nicht oder nur mit einem ruppigen „Foto!“ zu einem Bild verpflichtet zu werden. Unter dieser Bedingung haben wir das meist verneint.
Die Sikhs sind uns in ganz Indien immer wieder als äußerst feine und höfliche Menschen aufgefallen. Hier, in ihrem Zentrum sind wir ausnahmslos umgeben von diesen friedlichen, freundlichen Menschen.
Wir gehen weiter. Auch hier gibt es eine kostenlose Essensstation für die Pilger. An besonderen Tagen werden bis zu 80.000 Menschen bewirtet. Durch eine Fußbad-Schleuse aus frischem, sauberem Wasser betreten wir den hallenartigen Kantinenbereich. Unfassbar: jeder der Pilger beteiligt sich an der mühevollen Küchenarbeit. Die gesamte Anlage wird allein von Freiwilligen bewirtschaftet. Alte Männer und Frauen, Jugendliche, Menschen aller Alters- und Gesellschaftsschichten sitzen zu Boden, um Zwiebeln, Ingwer, Chilis und allerlei Gemüse zu schneiden. Der Lärm ist ohrenbetäubend. Ein Stimmengewirr, das Knallen der Blechteller in mehrstöckige Rollwagen, das Abspritzen von containergroßen Töpfen, das Knallen der Blechtassen in den riesigen Spülgängen machen das Schlendern durch dieses Geschehen zu einem eindrucksvollen Erlebnis. Die Gerüche von tausenden von Zwiebeln in der Hitze sind grenzwertig, dennoch wirkt das gesamte Ereignis in sich friedlich. Die Esshallen werden in endlosen Schichten komplett mit Menschen gefüllt – niemand drängt sich vor, jeder stellt sich an, wer fertig gegessen hat, beginnt seinen Spüldienst – und schon füllt die nächste Gruppe die Halle, ohne Hast, ohne Eile. Ich habe niemals zuvor so ein friedvolles Chaos erlebt. Peter und ich essen nichts. Auch wenn das alles sehr lecker wirkt. Doch die Hitze raubt uns jeglichen Appetit.
Zurück durch das Fußbad laufen wir – das ganze Geschehen aufsaugend und verarbeitend, berauscht von den wunderschönen Gesängen – in Richtung des Zentrums der heiligen Städte. Eine riesige Schlange lässt uns zögern. Wie viele Stunden werden wir auf dem Weg zum heiligsten Buch im Innern des Tempels warten müssen. Doch überraschend dauert der Weg ins Heiligtum gerade 15 Minuten, der Gang dorthin wird gesäumt von riesigen Ventilatoren, der Marmorfußboden ist kühl und sauber, wird nach jeder Gruppe neu gewischt.
Im Inneren entdecken wir endlich die Verursacher des schönen Gesangs: Vier Männer singen, ein weiterer liest ununterbrochen aus dem Heiligen Buch. Wir verstehen nichts, weder die Worte noch die vielen Rituale die uns umgeben. Es gibt eine Heilige Kommunion, eine Art Kreuzzeichen, heilige Waschungen – für uns Ungläubige ein Gemisch vieler Bräuche, vieler verschiedener Religionen.
Auf dem Weg zurück werden wir mit dem heiligen Nektar bespritzt. Das ist kühl. Das ist gut. Alles in allem erlebe ich den Goldenen Tempel als die für mich wohl beeindruckendste heilige Städte, die ich je gesehen und erleben durfte. Ich kann nicht sagen warum. Der heilige Funke, das spirituelle Erwachen ist für mich weder am biblischen Tempelberg in Jerusalem, vor dem balinesischen Tana Lhot, in der Sultanahmet Cami, in der Basilius Kathedrale noch an sonst einem heiligen, meist von Touristen erstickten Fleck dieser Erde übergesprungen – doch hier, in einem Tempel einer mir bis vor kurzem völlig unbekannten, so jungen Religionsgemeinschaft empfinde ich zumindest so etwas wie angenehmer Ehrfurcht. Verflucht zu meiner Rationalität und Ungläubigkeit bin ich zumindest ein klein wenig berührt von der Möglichkeit, dass Menschen sich von den dominierenden religiösen Traditionen dieser Welt mit all ihren Hierarchien zu lösen versuchen, um an einen gestaltlosen, geschlechtslosen Schöpfergott zu glauben.
Der Goldene Tempel ist definitiv ein Indien-Highlight für mich. Ein wundervoll friedvoller Ort in diesem oft in jeglicher Hinsicht anstrengenden Land.
Antworten
Danke, Ute!
Absolut beeindruckender Bericht in Wort und Bild. .. ☺
Absolut beeindruckend… Danke für den interessanten Bericht. ..
Ich kann gar nicht mehr sagen als: dieser Tempel war auch einer meiner eindruckvollsten Erlebnisse, die ich in den letzten Jahren gemacht habe.
Die Atmosphäre lässt sich kaum in Worte fassen. Wer die Chance hat, diesen Tempel zu besuchen, sollte es tun!Da hast du recht, Nora!
Hin und anschauen, spüren, riechen, horchen …
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