Erst Qualen, dann Euphorie, danach Schmerzen

6.088 Meter ist der Berg Huay­na Poto­sí hoch. Im Rah­men einer drei­tä­gi­gen Tour haben wir – mit Eis­pi­ckel und Steig­ei­sen aus­ge­rüs­tet – die­sen boli­via­ni­schen Gigan­ten bezwun­gen. Der Rück­blick auf eine der größ­ten kör­per­li­chen und men­ta­len Her­aus­for­de­run­gen unse­res Lebens.

Der „Doc­tor“ – so wird der prak­ti­zie­ren­de Not­fall­arzt und Besit­zer einer Rei­se­agen­tur in La Paz, die auf Berg­stei­ger­tou­ren am 6.088 Meter hohen Huay­na Poto­sí spe­zia­li­siert ist, von allen nur genannt – fährt mit sei­nem gro­ßen, schwar­zen, alten Jeep vor. Er steigt schwung­voll aus – und kommt auf uns, die war­ten­de Grup­pe aus aben­teu­er­lus­ti­gen, aber uner­fah­re­nen Neu-Berg­stei­gern, zu. Ener­gi­scher Schritt. Eine Son­nen­bril­le hat er läs­sig auf­ge­setzt. Sein Grin­sen, das sei­ne gelb­li­chen Zäh­ne frei­legt, ist breit, als er zu uns sagt: „Hey, seid Ihr bereit, einen 6.000er zu bestei­gen? Das wird ein rie­sen­gro­ßer Spaß.“

Wir – das sind neben uns bei­den noch der Schwei­zer Phil­lip, Clau­de aus Frank­reich, der Nor­we­ger Tor und Fabi­an aus Deutsch­land – gucken uns etwas unsi­cher an. Die Vor­freu­de ist bei allen vor­han­den, aber auch eine gehö­ri­ge Por­ti­on Respekt, schließ­lich ist noch nie­mand von uns auf solch einer Höhe gewe­sen. Der „Doc­tor« scheint hin­ge­gen schon wie­der in sei­ner eige­nen Welt zu sein, er steckt ein Bob-Dylan-Album in den CD-Play­er, träl­lert umge­hend das Lied mit und bret­tert mit sei­nem Gefährt, das er lie­be­voll „La Bes­tia Negra“ (Die schwar­ze Bes­tie) nennt, los.

Das ers­te Ziel der Fahrt ist das Lager der Agen­tur, wo wir unse­re Aus­rüs­tung erhal­ten. Ther­mo­ho­se und ‑jacke, Schlaf­sack, Plas­tik-Berg­stie­fel, Gama­schen, Hand­schu­he, Helm, Eis­pi­ckel und Steig­ei­sen. Wir pro­bie­ren alles an. Bei Danie­la dau­ert das Pro­ce­de­re etwas län­ger, ein Mit­ar­bei­ter muss näm­lich noch eine Jacke auf­trei­ben, die ihr nicht zwei oder drei, son­dern immer­hin nur eine Num­mer zu groß ist. Auf Danie­las „Grö­ße“ sind sie ein­fach nicht ein­ge­stellt.

Nach­dem dann irgend­wann doch jeder eine halb­wegs pas­sen­de Berg­stei­ger­gar­ni­tur gefun­den hat, set­zen wir unse­re Fahrt fort. Über die direkt an La Paz angren­zen­de Stadt El Alto – das Armen­haus der Regi­on, das immer grö­ßer und grö­ßer wird – fah­ren wir wei­ter Rich­tung Cor­dil­lera Real, eine Gebirgs­ket­te im Anden­hoch­land. Dort befin­det sich auch unser Ziel: der gewal­ti­ge Huay­na Poto­sí.

Zwei Stun­den benö­ti­gen wir, bis wir den ver­glet­scher­ten Gip­fel des „jun­gen Ber­ges“ – wie es in der Spra­che des indi­ge­nes Vol­kes Aymara bedeu­tet – erbli­cken. Der Jeep fährt in den Zon­go-Pass. Dort befin­det sich auf 4.750 Metern das Berg­stei­ger-Hotel Refu­gio Huay­na Poto­sí, male­risch gele­gen an einem grün-schim­mern­den Stau­see. Wir stei­gen aus dem brum­men­den Fahr­zeug, schmei­ßen unse­re Ruck­sä­cke in unser Zim­mer, Essen kurz zu Mit­tag und machen uns dann start­klar, um ers­te Erfah­run­gen am Berg zu sam­meln.

Tag 1: Glet­scher-Trai­ning mit Steig­ei­sen und Eis­pi­ckel

Von unse­rem Camp lau­fen wir etwas weni­ger als eine Stun­de, bis wir den Glet­scher errei­chen. Dort zie­hen wir unse­re Spe­zi­al­schu­he aus Plas­tik an und schnal­len Steig­ei­sen dar­un­ter. Jetzt feh­len nur noch die Gama­schen – und es kann los­ge­hen.

Zwei Gui­des machen uns bei dem Trai­ning am Glet­scher vor, was wir in solch einem für uns unge­wohn­ten Ter­rain beach­ten müs­sen, wie wir uns am bes­ten und sichers­ten fort­be­we­gen. Die ers­ten Schrit­te auf dem glit­schi­gen Glet­scher fal­len uns noch schwer. Wir set­zen ganz vor­sich­tig ein Bein vor das ande­re. Wir kom­men anfangs nur lang­sam vor­wärts. Aber nach und nach wird es bes­ser, die Bewe­gun­gen wer­den natür­li­cher, die Schrit­te kom­men auto­ma­tisch, ohne über die Mög­lich­keit eines Stur­zes nach­zu­den­ken.

Nach einer Ein­ge­wöh­nungs­pha­se sol­len wir den Glet­scher ein Stück hin­auf­klet­tern. Unse­re Eis­pi­ckel müs­sen wir dabei ein­set­zen. Dann geht es wie­der hin­ab. Dafür müs­sen wir stark in die Hocke gehen, um das Gleich­ge­wicht zu hal­ten und nicht abzu­rut­schen. Ich wie­der­ho­le die Übung, um noch mehr Sicher­heit zu bekom­men.

Im Anschluss dar­an machen wir uns auf den Weg zu einer Steil­wand am Glet­scher. Wir kön­nen nun ver­su­chen, die­se ver­eis­te Wand – mit zwei Eis­pi­ckeln aus­ge­rüs­tet – hin­auf­zu­klet­tern. An einem Seil gesi­chert, ver­steht sich.

Ich pro­bie­re es. Und mer­ke schnell, dass dies kein leich­tes Unter­fan­gen ist. Zuerst haue ich den Eis­pi­ckel, der sich in mei­ner lin­ken Hand befin­det, in das Eis. Danach schla­ge ich mit mei­nem rech­ten Arm zu. Auch der ande­re Eis­pi­ckel bohrt sich in die har­te Eis­schicht. Mit den spit­zen Metall­za­cken am vor­de­ren Bereich der Steig­ei­sen suche ich nach zusätz­li­chem Halt in der rut­schi­gen Wand. Es gelingt mir nicht immer, ich rut­sche ab, kann mich dank der fest ver­kan­te­ten Eis­pi­ckel aber noch hal­ten.

Nach­dem ich neue Ener­gie gesam­melt habe, set­ze ich mei­nen Klet­ter­aus­flug fort – und arbei­te mich mit viel Mühe wei­ter nach oben. Jeder Zen­ti­me­ter kos­tet Kraft. Kraft, die auf den letz­ten Metern end­gül­tig zu schwin­den droht. Mit dem letz­ten Mute der Ver­zweif­lung schaf­fe ich es aber schließ­lich bis nach oben. Ent­kräf­tet las­se ich mich in die Siche­rung des Seils fal­len und habe weni­ge Sekun­den spä­ter wie­der siche­ren Boden unter den Steig­ei­sen.

Übung bestan­den. Mei­ne Arme spü­re ich aller­dings nur bedingt, als wir zurück zum Refu­gio gehen. Hof­fent­lich rächt sich die­ser Kräf­te­ver­schleiß in den nächs­ten bei­den Tagen nicht, den­ke ich ganz kurz, bin dann aber schnell wie­der davon über­zeugt, dass die Mis­si­on 6.000er einen erfolg­rei­chen Aus­gang haben wird.

Tag 2: Auf­stieg zum zwei­ten Camp mit schwe­rem Gepäck

Wir kön­nen aus­schla­fen. Erst nach dem Früh­stück packen wir unser Berg­stei­ger-Equip­ment zusam­men. Es ist so viel, dass jeder von uns einen gro­ßen Ruck­sack benö­tigt. Ich set­ze die­sen test­wei­se auf. Er ist schwer. Dann steht das Mit­tag­essen auf dem Pro­gramm. Gegen 13 Uhr bre­chen wir vom Refu­gio auf.

Zuerst pas­sie­ren wir den Glet­scher, an dem wir ges­tern trai­niert haben. Wir stei­gen wei­ter berg­auf. Der Weg führt über gewal­ti­ge Stei­ne. Häu­fig müs­sen wir gro­ße Schrit­te machen. Es ist jetzt schon anstren­gend, obwohl sich das Schnee­feld noch weit über uns befin­det. Wol­ken zie­hen über den Gip­fel, las­sen die­sen mal ver­schwin­den und dann wie­der auf­tau­chen.

Auf unse­rem Weg zum Camp für die Nacht gehen wir an Lamas vor­bei, die uns erstaunt angu­cken. So als ob sie sich fra­gen wür­den, was die­se Krea­tu­ren auf solch einer Höhe machen. Die Bewöl­kung ist mitt­ler­wei­le dich­ter gewor­den. Wir kön­nen nur noch ein paar Meter weit sehen. Dann ist Schluss. Die Umge­bung ver­schwimmt im grau­en Dunst.

Nach cir­ca zwei­ein­halb Stun­den gelan­gen wir an das auf 5.130 Metern gele­ge­ne Cam­po Alto Roca. Hier über­nach­ten (ande­re) Berg­stei­ger, wir aber nicht, denn für uns geht es heu­te noch etwas wei­ter. Eine Vier­tel­stun­de spä­ter errei­chen wir unser Camp. Eine Hüt­te aus rotem Well­blech. Acht Per­so­nen kön­nen dort drin über­nach­ten. Etwas wei­ter weg steht noch ein klei­ner Ver­schlag am fel­si­gen Abgrund – das stil­le Ört­chen des Camps.

Bereits nach dem heu­ti­gen Auf­stieg sind wir zwar ermat­tet, spü­ren aber auch Glücks­ge­füh­le, die sich in uns aus­brei­ten. Unse­ren Köp­fen geht es eben­falls sehr gut. Kei­ner­lei Kopf­schmer­zen. Auch ande­re Sym­pto­me der Höhen­krank­heit wei­sen wir nicht auf. Fehl­an­zei­ge. Zum Glück. Die wochen­lan­ge Akkli­ma­tis­a­ti­ons­zeit auf über 3.000 Metern Höhe hat sich also gelohnt. Auf jeden Fall bis jetzt.

Wir machen ein paar Fotos. Freu­de­strah­lend. Und ruhen uns danach von den Stra­pa­zen des Tages aus. Gegen 17.30 Uhr wird das Abend­essen ser­viert. Minu­ten­sup­pe. Nicht gera­de eine Deli­ka­tes­se. Aber auf die­ser Höhe kann man nicht wäh­le­risch sein. Wir essen auf – und legen uns im Anschluss dar­an schla­fen. Vor 18 Uhr. Schwie­rig. Es bleibt bei einem Ver­such.

Tag 3: Gip­fel­sturm auf 6.088 Meter und Abstieg zum Refu­gio

Um 0.30 Uhr geht der Wecker. Ich hät­te ihn gar nicht gebraucht, da ich sowie­so kaum ein Auge zu gemacht habe. Dämm­ri­ger Halb­schlaf, so könn­te eine Beschrei­bung lau­ten, die mei­nen Zustand in den ver­gan­ge­nen Stun­den auf den Punkt bringt. Den ande­ren geht es ähn­lich, aus­ge­schla­fen ist auf jeden Fall kei­ner in unse­rer Grup­pe.

Egal. Denn wir müs­sen uns spu­ten, da der Zeit­plan vor­sieht, dass wir in einer hal­ben Stun­de unser gesam­tes Equip­ment ange­zo­gen haben sol­len. Danach haben wir wei­te­re 30 Minu­ten Zeit, eine Klei­nig­keit zu früh­stü­cken. Wir schlin­gen ein paar Bro­te mit Mar­me­la­de hin­un­ter. Dazu trin­ke ich eine Tas­se hei­ßen Coca-Tee. Die Blät­ter der Coca-Pflan­ze sol­len schließ­lich Wun­der bewir­ken – mög­li­che Sym­pto­me der gefürch­te­ten Höhen­krank­heit sol­len angeb­lich dadurch gar nicht erst ent­ste­hen bzw. gemin­dert wer­den. Die ein­hei­mi­schen Berg­füh­rer schwö­ren zumin­dest auf die Wir­kung von Coca. Ich stop­fe mir nach der klei­nen Mahl­zeit eben­falls eini­ge die­ser Blät­ter in den Mund – und hof­fe, auch heu­te von Kopf­schmer­zen, Übel­keit, Schwin­del & Co. ver­schont zu blei­ben.

Gegen 1.30 Uhr beginnt end­gül­tig der Gip­fel­sturm. Wir schal­ten unse­re Stirn­lam­pen an, als wir das Camp ver­las­sen. Schließ­lich ist es stock­fins­ter. Nur die Ster­ne fun­keln hell und klar weit über uns. Unse­re drei Gui­des tei­len uns sechs Berg­stei­ger­neu­lin­ge dann unter­ein­an­der auf. Je zwei Per­so­nen gehen mit einem Berg­füh­rer. Danie­la und ich schlie­ßen uns Juan an. Ein klei­ner, schweig­sa­mer, Mit­te 20-jäh­ri­ger Boli­via­ner. Er arbei­tet seit drei Jah­ren am Huay­na Poto­sí. Kein alter Hau­de­gen also, nicht der Rein­hold Mess­ner Boli­vi­ens, aber fit sieht er aus – und Fit­ness ist bei unse­rem heu­ti­gen Vor­ha­ben drin­gend erfor­der­lich.

Juan ver­bin­det uns drei mit einem Seil, sichert uns so und geht vor­ne weg. Danie­la folgt. Ich bil­de das Schluss­licht unse­rer klei­nen Grup­pe. Von Beginn an schrei­ten wir über ein Schnee­feld. Der fes­te Schnee knirscht bei jedem Schritt unter unse­ren Steig­ei­sen. Klei­ne Eis­kris­tal­le fun­keln im hel­len Schim­mer unse­rer Stirn­lam­pen, mit denen wir die Fins­ter­nis für eini­ge Meter vor uns durch­bre­chen.

Wir arbei­ten uns nach oben – und schla­gen dabei ein ordent­li­ches Tem­po an. Es ist anstren­gend. Das mer­ken wir schnell. Aber ich füh­le mich sehr gut, bin trotz des kaum vor­han­de­nen Schla­fes in einem erfreu­lich fit­ten Zustand. Und ich habe trotz der Anstren­gung ein Lächeln im Gesicht. Es macht Spaß, sich mehr und mehr Rich­tung Gip­fel des Huay­na Poto­sí zu kämp­fen.

Ab und zu machen wir eine kur­ze Pau­se. Einen Schluck Was­ser trin­ken, ein Stück Scho­ko­la­de essen, Kräf­te sam­meln. Auch Danie­la hat nach rund einer Stun­de ihren Rhyth­mus auf der her­aus­for­dern­den Tour gefun­den. Wir set­zen uns wie­der in Bewe­gung – und unse­ren Auf­stieg fort.

Urplötz­lich hören wir hin­ter uns einen lau­ten Schrei, der durch die Dun­kel­heit hallt. Der Berg­füh­rer einer unse­rer bei­den ande­ren Grup­pen macht sich bemerk­bar. Wir stop­pen – und war­ten, bis alle auf unse­rer Höhe sind. Fabi­an, der bereits ges­tern beim Auf­stieg zum Camp für die zwei­te Nacht Pro­ble­me hat­te, kann nicht mehr. Er fühlt sich schlecht. Der Magen. Für ihn geht es nicht wei­ter, er muss abstei­gen, der Gip­fel des Huay­na Poto­sí bleibt ihm – zumin­dest die­ses Mal – ver­wehrt.

Da es unver­ant­wort­lich wäre, ihn den Abstieg allei­ne bewäl­ti­gen zu las­sen, wird er natür­lich von dem Berg­füh­rer beglei­tet. Nur was pas­siert mit Phil­lip, der mit dem erkrank­ten Fabi­an und dem Gui­de ein Team gebil­det hat? Bereits vor dem Start wur­de uns erklärt, dass ein Berg­füh­rer eigent­lich nicht mit drei Teil­neh­mern in einer Grup­pe den Gip­fel erklim­men kann. Das letz­te Stück des Auf­stiegs sei dafür ein­fach zu gefähr­lich, so die erfah­re­nen Boli­via­ner. Die Gui­des berat­schla­gen sich des­we­gen kurz – und schei­nen wohl zu dem Ent­schluss gekom­men zu sein, dass es bes­ser wäre, wenn noch jemand die Bestei­gung des Ber­ges abbre­chen wür­de, damit zwei Berg­füh­rer mit je zwei Per­so­nen wei­ter­ge­hen kön­nen.

Sie spre­chen Danie­la an – und fra­gen, ob sie sich denn noch fit füh­le, ob sie sich den Auf­stieg immer noch zutraue? Indi­rekt wird sie somit zum Umkeh­ren gedrängt. Doch sie lässt sich nicht beir­ren – und teilt ihnen mit, dass es ihr gut gehe und sie nicht dar­an den­ke, umzu­keh­ren. Nach einer wei­te­ren Bera­tungs­pha­se darf sich Phil­lip Tor und Clau­de anschlie­ßen. Ob sie zu dritt aber auch das letz­te Stück bis zur Spit­ze des Ber­ges antre­ten dür­fen, will ihr Berg­füh­rer erst wei­ter oben ent­schei­den.

End­lich geht es wei­ter. Der Berg wird immer stei­ler. Eini­ge hun­dert Meter spä­ter steigt das Gelän­de auf ein­mal extre­mer an. Juan weist uns an, den Eis­pi­ckel über uns in die har­te Schnee­de­cke zu schla­gen und dann nach und nach den Hang hin­auf­zu­klet­tern. Ein Kraft­akt steht uns bevor. Es ist immer noch dun­kel, wir kön­nen dem­entspre­chend nicht sehen, wie weit der Weg ist, den wir auf die­se ener­gie­ver­schlei­ßen­de Art und Wei­se zurück­le­gen müs­sen. Wir benö­ti­gen rund zehn Minu­ten, das schät­zen wir zumin­dest, als wir die stei­le Pas­sa­ge bewäl­tigt haben. Zum Glück legen wir eine kur­ze Ver­schnauf­pau­se ein. Die­se ist drin­gend not­wen­dig, wir sind rich­tig außer Atem.

Auch nach die­ser Anstren­gung füh­le ich mich noch fit. Ich bin stolz und glück­lich, die­se Her­aus­for­de­rung erfolg­reich gemeis­tert zu haben. In die­sem Moment habe ich das Gefühl, dass ich noch Stun­den den Berg hin­auf­lau­fen könn­te. Freu Dich nicht zu früh, sage ich lei­se zu mir selbst. Nicht, dass es ein Trug­schluss ist, denn noch haben wir den Gip­fel nicht erreicht.

Danie­la geht eben­falls wei­ter­hin tap­fer den Berg hin­auf. Sie hört in sich hin­ein – und ab und zu fragt sie Juan nach einem kur­zen Stopp. Unser Berg­füh­rer ent­spricht den Wün­schen, ganz glück­lich scheint er dar­über aber nicht zu sein. Zu vie­le Pau­sen wür­den Kopf­schmer­zen för­dern, meint er. Wir sol­len uns also nicht so anstel­len und wei­ter­ge­hen, könn­te man es auch deu­ten. Zim­per­lich gehen die Gui­des mit uns Berg­stei­ger­tou­ris­ten also nicht um. Dies hat­ten wir aber bereits vor unse­rer Tour von jeman­dem gehört, uner­war­tet trifft uns die leicht for­dern­de Ein­stel­lung von Juan somit nicht.

Mitt­ler­wei­le sind wir über drei­ein­halb Stun­den unter­wegs. Juan bleibt ste­hen – und dreht sich zu uns um. „Wie fühlt Ihr Euch?“, fragt er uns ein­dring­lich. Wir sagen, dass alles bes­tens ist. „Wirk­lich? Das ist wich­tig, denn jetzt müsst Ihr hun­dert­pro­zen­tig kon­zen­triert sein.“ Wir nicken. Er spricht wei­ter: „Wir sind hier am Beginn des Auf­stiegs zum Gip­fel. Und die­ser hat es in sich. Hört also genau auf mei­ne Anwei­sun­gen.“ Er zeigt Rich­tung Berg­spit­ze. Die letz­ten Höhen­me­ter, die wir hin­auf­stei­gen müs­sen, lie­gen vor uns. Unser Herz­schlag wird schnel­ler.

Die Eis­pi­ckel nut­zen wir nun wie­der inten­si­ver, denn es geht steil nach oben. Dann ste­hen wir auf einem schma­len Grat, der zum Gip­fel führt. Bei­de Stie­fel pas­sen gera­de so neben­ein­an­der. Auf der rech­ten Sei­te des Weges befin­det sich eine leich­te Erhö­hung aus gefro­re­nem Schnee, wo wir unse­re Eis­pi­ckel hin­ein­boh­ren kön­nen. Als Siche­rung. Schließ­lich geht es dahin­ter in die Tie­fe. Auf der lin­ken Sei­te des Pfads gibt es die­se Erhö­hung nicht, son­dern aus­schließ­lich abschüs­si­ges Gelän­de. Ein Fehl­tritt kann hier fata­le Fol­gen haben, den­ke ich, als ich vor­sich­tig einen Fuß vor den ande­ren set­ze.

Das Seil, das zwi­schen uns gespannt ist, sol­len wir stramm hal­ten, ruft unser Berg­füh­rer Juan, als wir uns wei­ter Rich­tung Gip­fel vor­tas­ten. Lang­sam. Trotz­dem blei­be ich ein­mal kurz mit einem mei­ner Schu­he an dem ande­ren hän­gen. Ich gera­te für den Bruch­teil einer Sekun­de aus dem Gleich­ge­wicht, fan­ge mich aber. Nichts ist pas­siert. Ich atme schwer. Die Kraft ist aus mei­nem Kör­per gewi­chen. Schlag­ar­tig. Eben hät­te ich noch Bäu­me aus­rei­ßen kön­nen, jetzt füh­len sich mei­ne Bei­ne wie Pud­ding an.

Pau­se. Ich schaue zum Ziel unse­rer Berg­tour auf – und fra­ge mich in die­sem Moment, war­um ich dies eigent­lich mache? Um mich zu bewei­sen? Mei­ne kör­per­li­chen und men­ta­len Gren­zen aus­zu­tes­ten? So ganz genau weiß ich es in die­sem Moment nicht. Sicher ist aber, dass die­se Gren­zen nicht mehr weit weg sind.

Zum Glück aber auch der Gip­fel nicht mehr. Rund eine hal­be Stun­de benö­ti­gen wir, bis die­ser ganz nah ist, bis wir die Spit­ze des Huay­na Poto­sí sehen kön­nen. Wenig spä­ter set­zen wir die ers­ten Schrit­te auf den klei­nen Gip­fel­be­reich, auf den höchs­tens rund acht Per­so­nen gleich­zei­tig gefahr­los Platz fin­den. Ein Berg­füh­rer ist mit sei­nem Schütz­ling bereits dort. Wir kom­men nach knapp über vier Stun­den als zwei­te Grup­pe des Tages am Gip­fel an. Unver­sehrt. Platt. Aber vor allem glück­lich.

Ein Hoch­ge­fühl setzt ein, als Juan uns gra­tu­liert. „Ihr habt 6.088 Meter bezwun­gen“, sagt er grin­send. Auch wir strah­len. Und müs­sen uns hin­set­zen. Die Son­ne geht auf. Noch schim­mert sie etwas zag­haft am dunk­len Rand des Hori­zonts. Doch dann über­nimmt der gelb-rote Schim­mer die Ober­hand, bis unse­re Umge­bung zu erken­nen ist. Zum einen sehen wir ande­re Ber­ge der Gebirgs­ket­te Cor­dil­lera Real, zum ande­ren die soge­nann­ten Yun­gas, das Gebiet, das bis ins Ama­zo­nas­be­cken abfällt.

Ein über­wäl­ti­gen­der Aus­blick, den wir 20 Minu­ten genie­ßen kön­nen. Solan­ge blei­ben wir unge­fähr auf dem Gip­fel. Danach müs­sen wir den Abstieg begin­nen, denn nach­rü­cken­de Grup­pen pochen dar­auf, eben­falls die Spit­ze des Ber­ges zu errei­chen.

Da wir den­sel­ben schma­len Grat hin­un­ter­klet­tern müs­sen, den ande­re Berg­stei­ger gera­de nach oben gehen, wird der Abstieg auf den ers­ten Metern zur Tor­tur. Das ers­te Mal, als sich unse­re Wege mit einer ande­ren Grup­pe kreu­zen, kön­nen wir auf die seit­li­che Erhö­hung aus­wei­chen. Beim zwei­ten Auf­ein­an­der­tref­fen mit Nach­rü­ckern ist dies lei­der nicht mög­lich, da an die­sem Teil des Kamms die erhöh­te Eis­bar­rie­re unter­bro­chen ist. „Was nun?“, fra­ge ich Juan leicht ver­zwei­felt. Sei­ne Ant­wort beru­higt mich nicht: „Wir hän­gen uns mit unse­ren Eis­pi­ckeln in die Wand.“ Aha. Klar. Ist logisch. Mir feh­len die Wor­te, ich schaue ihn ungläu­big an. „Es gibt kei­ne Alter­na­ti­ve“, sagt er, um sei­ner Aus­sa­ge Nach­druck zu ver­lei­hen.

Nach­ein­an­der stei­gen wir in den Hang hin­ab. Ich fan­ge an. Der in die Schnee­de­cke gebohr­te Eis­pi­ckel ist mei­ne Ver­si­che­rung, den­ke ich, als ich die Steig­ei­sen fest in die Eis­wand ram­me, um noch mehr Halt zu haben. In die­ser Posi­ti­on müs­sen wir nur eine Minu­te aus­har­ren. Die­se kur­ze Zeit reicht aller­dings aus, um mei­ne Knie zum Schlot­tern zu brin­gen.

Dann ist der schwie­rigs­te Teil des Abstiegs geschafft. Ins­ge­samt benö­ti­gen wir zwei Stun­den, bis wir zur Hüt­te gelan­gen, in der unse­re rest­li­chen Gegen­stän­de sind. Dort haben wir 30 Minu­ten Zeit, um uns umzu­zie­hen, unse­ren Ruck­sack zu packen und durch­zu­at­men, bevor es zum Refu­gio wei­ter­geht.

Spä­tes­tens auf die­sem letz­ten Stück spü­re ich jeden Mus­kel und Kno­chen in mei­nem Kör­per. Ich füh­le mich wie ein sich auto­ma­tisch fort­be­we­gen­der Ganz­kör­per­schmerz, als wir am Aus­gangs­punkt unse­rer Berg­stei­ger­tour gegen elf Uhr am Vor­mit­tag ankom­men.

Wir set­zen unse­re schwe­ren Ruck­sä­cke ab, neh­men erschöpft auf einem Stuhl Platz, bli­cken Rich­tung Huay­na Poto­sí und ich sage zu Danie­la: „Vor eini­gen Stun­den waren wir noch da oben. Wahn­sinn.“

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Antworten

  1. Avatar von Andy
    Andy

    Hi ihr bei­den,

    Ich pla­ne im Mai eine Rei­se nach Süd­ame­ri­ka und wäre Ende Mai in La Paz. Wie hieß denn die Agen­tur bei der ihr gebucht hat und was waren die Kos­ten?
    Lie­be Grü­ße und Dan­ke für den super Blog den ihr habt!

    Andy

    1. Avatar von Christian & Daniela

      Hal­lo Andy, vie­len Dank für Dei­nen Kom­men­tar. Hier ist der Tour­anbie­ter: http://huayna-potosi.com/aboutus.html. Die Tour hat umge­rech­net rund 115 Euro pro Per­son gekos­tet (Preis Neben­sai­son). Wir wün­schen Dir ganz viel Spaß in Süd­ame­ri­ka – und viel Erfolg bei der Berg­be­stei­gung. Lie­be Grü­ße.

  2. Avatar von Simon
    Simon

    Hey ihr bei­den,

    hat mir sehr Spaß gemacht, euren Arti­kel zu lesen! Man fie­bert rich­tig mit. Könn­tet ihr mir sagen, wie ihr an den ›Doc­tor‹ gekom­men seid? Dan­ke schon ein­mal!

    1. Avatar von Christian & Daniela

      Hey Simon, vie­len Dank für Dei­ne Nach­richt. Klas­se, dass Dir die Geschich­te gefal­len hat. Hier ist die Web­sei­te des Tour­anbie­ters: http://huayna-potosi.com/aboutus.html

  3. Avatar von Bobaroundtheworld via Facebook

    Sehr schö­ner Bericht! Toll geschrie­ben! Wir haben so rich­tig mit­ge­fie­bert und sind beein­druckt, dass ihr es bis zum Gip­fel (und glück­li­cher­wei­se auch zurück) geschafft habt. Hut ab!

    1. Avatar von Christian & Daniela

      Vie­len Dank für das tol­le Kom­pli­ment. Wir freu­en uns sehr, dass Ihr mit­ge­fie­bert habt – und gut, dass wir gesund und mun­ter wie­der vom Berg her­un­ter­ge­kom­men sind 🙂 Lie­be Grü­ße.

  4. Avatar von Felix

    Sehr schö­ner Bericht, da kom­men Erin­ne­run­gen an mei­nen Auf­stieg hoch, der nun aller­dings schon 6 Jah­re her ist:
    http://www.zerinnerung.de/reise-suedamerika/bolivien-reise-suedamerika/tag-3-grenzerfahrung-auf-6088-hohenmetern/486

    1. Avatar von Christian & Daniela

      Vie­len Dank, Felix. Und unse­re Ein­drü­cke ähneln sich in der Tat: Denn Tag drei war auch eine Grenz­erfah­rung für uns. Lie­be Grü­ße.

  5. Avatar von Kathrin Drewke

    Lie­be Danie­la, lie­ber Chris­ti­an,

    Respekt vor einer sol­chen Leis­tung! Mit­ten in der Nacht nicht wirk­lich aus­ge­schla­fen in meh­re­ren tau­send Metern Höhe eine schnee­be­deck­ten Gip­fel zu bestei­gen, ist sicher­lich nicht jeder­manns Vor­stel­lung von »Urlaub« 😉
    Der Dank für die Mühen ist aber eben nicht nur der Aus­blick, son­dern die ewi­ge Erin­ne­rung an das Geschaff­te, die regel­rech­te Kno­chen­ar­beit und den Lohn.

    1. Avatar von Christian & Daniela

      Lie­be Kath­rin, so ist es, die­ses Aben­teu­er wer­den wir garan­tiert nicht ver­ges­sen, ein tol­ler Lohn für die Anstren­gun­gen, die uns aber die meis­te Zeit viel Spaß gemacht haben 🙂 Herz­li­chen Dank für Dei­nen Kom­men­tar.

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