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6.088 Meter ist der Berg Huayna Potosí hoch. Im Rahmen einer dreitägigen Tour haben wir – mit Eispickel und Steigeisen ausgerüstet – diesen bolivianischen Giganten bezwungen. Der Rückblick auf eine der größten körperlichen und mentalen Herausforderungen unseres Lebens.
Der „Doctor“ – so wird der praktizierende Notfallarzt und Besitzer einer Reiseagentur in La Paz, die auf Bergsteigertouren am 6.088 Meter hohen Huayna Potosí spezialisiert ist, von allen nur genannt – fährt mit seinem großen, schwarzen, alten Jeep vor. Er steigt schwungvoll aus – und kommt auf uns, die wartende Gruppe aus abenteuerlustigen, aber unerfahrenen Neu-Bergsteigern, zu. Energischer Schritt. Eine Sonnenbrille hat er lässig aufgesetzt. Sein Grinsen, das seine gelblichen Zähne freilegt, ist breit, als er zu uns sagt: „Hey, seid Ihr bereit, einen 6.000er zu besteigen? Das wird ein riesengroßer Spaß.“
Wir – das sind neben uns beiden noch der Schweizer Phillip, Claude aus Frankreich, der Norweger Tor und Fabian aus Deutschland – gucken uns etwas unsicher an. Die Vorfreude ist bei allen vorhanden, aber auch eine gehörige Portion Respekt, schließlich ist noch niemand von uns auf solch einer Höhe gewesen. Der „Doctor« scheint hingegen schon wieder in seiner eigenen Welt zu sein, er steckt ein Bob-Dylan-Album in den CD-Player, trällert umgehend das Lied mit und brettert mit seinem Gefährt, das er liebevoll „La Bestia Negra“ (Die schwarze Bestie) nennt, los.
Das erste Ziel der Fahrt ist das Lager der Agentur, wo wir unsere Ausrüstung erhalten. Thermohose und ‑jacke, Schlafsack, Plastik-Bergstiefel, Gamaschen, Handschuhe, Helm, Eispickel und Steigeisen. Wir probieren alles an. Bei Daniela dauert das Procedere etwas länger, ein Mitarbeiter muss nämlich noch eine Jacke auftreiben, die ihr nicht zwei oder drei, sondern immerhin nur eine Nummer zu groß ist. Auf Danielas „Größe“ sind sie einfach nicht eingestellt.
Nachdem dann irgendwann doch jeder eine halbwegs passende Bergsteigergarnitur gefunden hat, setzen wir unsere Fahrt fort. Über die direkt an La Paz angrenzende Stadt El Alto – das Armenhaus der Region, das immer größer und größer wird – fahren wir weiter Richtung Cordillera Real, eine Gebirgskette im Andenhochland. Dort befindet sich auch unser Ziel: der gewaltige Huayna Potosí.
Zwei Stunden benötigen wir, bis wir den vergletscherten Gipfel des „jungen Berges“ – wie es in der Sprache des indigenes Volkes Aymara bedeutet – erblicken. Der Jeep fährt in den Zongo-Pass. Dort befindet sich auf 4.750 Metern das Bergsteiger-Hotel Refugio Huayna Potosí, malerisch gelegen an einem grün-schimmernden Stausee. Wir steigen aus dem brummenden Fahrzeug, schmeißen unsere Rucksäcke in unser Zimmer, Essen kurz zu Mittag und machen uns dann startklar, um erste Erfahrungen am Berg zu sammeln.
Tag 1: Gletscher-Training mit Steigeisen und Eispickel
Von unserem Camp laufen wir etwas weniger als eine Stunde, bis wir den Gletscher erreichen. Dort ziehen wir unsere Spezialschuhe aus Plastik an und schnallen Steigeisen darunter. Jetzt fehlen nur noch die Gamaschen – und es kann losgehen.
Zwei Guides machen uns bei dem Training am Gletscher vor, was wir in solch einem für uns ungewohnten Terrain beachten müssen, wie wir uns am besten und sichersten fortbewegen. Die ersten Schritte auf dem glitschigen Gletscher fallen uns noch schwer. Wir setzen ganz vorsichtig ein Bein vor das andere. Wir kommen anfangs nur langsam vorwärts. Aber nach und nach wird es besser, die Bewegungen werden natürlicher, die Schritte kommen automatisch, ohne über die Möglichkeit eines Sturzes nachzudenken.
Nach einer Eingewöhnungsphase sollen wir den Gletscher ein Stück hinaufklettern. Unsere Eispickel müssen wir dabei einsetzen. Dann geht es wieder hinab. Dafür müssen wir stark in die Hocke gehen, um das Gleichgewicht zu halten und nicht abzurutschen. Ich wiederhole die Übung, um noch mehr Sicherheit zu bekommen.
Im Anschluss daran machen wir uns auf den Weg zu einer Steilwand am Gletscher. Wir können nun versuchen, diese vereiste Wand – mit zwei Eispickeln ausgerüstet – hinaufzuklettern. An einem Seil gesichert, versteht sich.
Ich probiere es. Und merke schnell, dass dies kein leichtes Unterfangen ist. Zuerst haue ich den Eispickel, der sich in meiner linken Hand befindet, in das Eis. Danach schlage ich mit meinem rechten Arm zu. Auch der andere Eispickel bohrt sich in die harte Eisschicht. Mit den spitzen Metallzacken am vorderen Bereich der Steigeisen suche ich nach zusätzlichem Halt in der rutschigen Wand. Es gelingt mir nicht immer, ich rutsche ab, kann mich dank der fest verkanteten Eispickel aber noch halten.
Nachdem ich neue Energie gesammelt habe, setze ich meinen Kletterausflug fort – und arbeite mich mit viel Mühe weiter nach oben. Jeder Zentimeter kostet Kraft. Kraft, die auf den letzten Metern endgültig zu schwinden droht. Mit dem letzten Mute der Verzweiflung schaffe ich es aber schließlich bis nach oben. Entkräftet lasse ich mich in die Sicherung des Seils fallen und habe wenige Sekunden später wieder sicheren Boden unter den Steigeisen.
Übung bestanden. Meine Arme spüre ich allerdings nur bedingt, als wir zurück zum Refugio gehen. Hoffentlich rächt sich dieser Kräfteverschleiß in den nächsten beiden Tagen nicht, denke ich ganz kurz, bin dann aber schnell wieder davon überzeugt, dass die Mission 6.000er einen erfolgreichen Ausgang haben wird.
Tag 2: Aufstieg zum zweiten Camp mit schwerem Gepäck
Wir können ausschlafen. Erst nach dem Frühstück packen wir unser Bergsteiger-Equipment zusammen. Es ist so viel, dass jeder von uns einen großen Rucksack benötigt. Ich setze diesen testweise auf. Er ist schwer. Dann steht das Mittagessen auf dem Programm. Gegen 13 Uhr brechen wir vom Refugio auf.
Zuerst passieren wir den Gletscher, an dem wir gestern trainiert haben. Wir steigen weiter bergauf. Der Weg führt über gewaltige Steine. Häufig müssen wir große Schritte machen. Es ist jetzt schon anstrengend, obwohl sich das Schneefeld noch weit über uns befindet. Wolken ziehen über den Gipfel, lassen diesen mal verschwinden und dann wieder auftauchen.
Auf unserem Weg zum Camp für die Nacht gehen wir an Lamas vorbei, die uns erstaunt angucken. So als ob sie sich fragen würden, was diese Kreaturen auf solch einer Höhe machen. Die Bewölkung ist mittlerweile dichter geworden. Wir können nur noch ein paar Meter weit sehen. Dann ist Schluss. Die Umgebung verschwimmt im grauen Dunst.
Nach circa zweieinhalb Stunden gelangen wir an das auf 5.130 Metern gelegene Campo Alto Roca. Hier übernachten (andere) Bergsteiger, wir aber nicht, denn für uns geht es heute noch etwas weiter. Eine Viertelstunde später erreichen wir unser Camp. Eine Hütte aus rotem Wellblech. Acht Personen können dort drin übernachten. Etwas weiter weg steht noch ein kleiner Verschlag am felsigen Abgrund – das stille Örtchen des Camps.
Bereits nach dem heutigen Aufstieg sind wir zwar ermattet, spüren aber auch Glücksgefühle, die sich in uns ausbreiten. Unseren Köpfen geht es ebenfalls sehr gut. Keinerlei Kopfschmerzen. Auch andere Symptome der Höhenkrankheit weisen wir nicht auf. Fehlanzeige. Zum Glück. Die wochenlange Akklimatisationszeit auf über 3.000 Metern Höhe hat sich also gelohnt. Auf jeden Fall bis jetzt.
Wir machen ein paar Fotos. Freudestrahlend. Und ruhen uns danach von den Strapazen des Tages aus. Gegen 17.30 Uhr wird das Abendessen serviert. Minutensuppe. Nicht gerade eine Delikatesse. Aber auf dieser Höhe kann man nicht wählerisch sein. Wir essen auf – und legen uns im Anschluss daran schlafen. Vor 18 Uhr. Schwierig. Es bleibt bei einem Versuch.
Tag 3: Gipfelsturm auf 6.088 Meter und Abstieg zum Refugio
Um 0.30 Uhr geht der Wecker. Ich hätte ihn gar nicht gebraucht, da ich sowieso kaum ein Auge zu gemacht habe. Dämmriger Halbschlaf, so könnte eine Beschreibung lauten, die meinen Zustand in den vergangenen Stunden auf den Punkt bringt. Den anderen geht es ähnlich, ausgeschlafen ist auf jeden Fall keiner in unserer Gruppe.
Egal. Denn wir müssen uns sputen, da der Zeitplan vorsieht, dass wir in einer halben Stunde unser gesamtes Equipment angezogen haben sollen. Danach haben wir weitere 30 Minuten Zeit, eine Kleinigkeit zu frühstücken. Wir schlingen ein paar Brote mit Marmelade hinunter. Dazu trinke ich eine Tasse heißen Coca-Tee. Die Blätter der Coca-Pflanze sollen schließlich Wunder bewirken – mögliche Symptome der gefürchteten Höhenkrankheit sollen angeblich dadurch gar nicht erst entstehen bzw. gemindert werden. Die einheimischen Bergführer schwören zumindest auf die Wirkung von Coca. Ich stopfe mir nach der kleinen Mahlzeit ebenfalls einige dieser Blätter in den Mund – und hoffe, auch heute von Kopfschmerzen, Übelkeit, Schwindel & Co. verschont zu bleiben.
Gegen 1.30 Uhr beginnt endgültig der Gipfelsturm. Wir schalten unsere Stirnlampen an, als wir das Camp verlassen. Schließlich ist es stockfinster. Nur die Sterne funkeln hell und klar weit über uns. Unsere drei Guides teilen uns sechs Bergsteigerneulinge dann untereinander auf. Je zwei Personen gehen mit einem Bergführer. Daniela und ich schließen uns Juan an. Ein kleiner, schweigsamer, Mitte 20-jähriger Bolivianer. Er arbeitet seit drei Jahren am Huayna Potosí. Kein alter Haudegen also, nicht der Reinhold Messner Boliviens, aber fit sieht er aus – und Fitness ist bei unserem heutigen Vorhaben dringend erforderlich.
Juan verbindet uns drei mit einem Seil, sichert uns so und geht vorne weg. Daniela folgt. Ich bilde das Schlusslicht unserer kleinen Gruppe. Von Beginn an schreiten wir über ein Schneefeld. Der feste Schnee knirscht bei jedem Schritt unter unseren Steigeisen. Kleine Eiskristalle funkeln im hellen Schimmer unserer Stirnlampen, mit denen wir die Finsternis für einige Meter vor uns durchbrechen.
Wir arbeiten uns nach oben – und schlagen dabei ein ordentliches Tempo an. Es ist anstrengend. Das merken wir schnell. Aber ich fühle mich sehr gut, bin trotz des kaum vorhandenen Schlafes in einem erfreulich fitten Zustand. Und ich habe trotz der Anstrengung ein Lächeln im Gesicht. Es macht Spaß, sich mehr und mehr Richtung Gipfel des Huayna Potosí zu kämpfen.
Ab und zu machen wir eine kurze Pause. Einen Schluck Wasser trinken, ein Stück Schokolade essen, Kräfte sammeln. Auch Daniela hat nach rund einer Stunde ihren Rhythmus auf der herausfordernden Tour gefunden. Wir setzen uns wieder in Bewegung – und unseren Aufstieg fort.
Urplötzlich hören wir hinter uns einen lauten Schrei, der durch die Dunkelheit hallt. Der Bergführer einer unserer beiden anderen Gruppen macht sich bemerkbar. Wir stoppen – und warten, bis alle auf unserer Höhe sind. Fabian, der bereits gestern beim Aufstieg zum Camp für die zweite Nacht Probleme hatte, kann nicht mehr. Er fühlt sich schlecht. Der Magen. Für ihn geht es nicht weiter, er muss absteigen, der Gipfel des Huayna Potosí bleibt ihm – zumindest dieses Mal – verwehrt.
Da es unverantwortlich wäre, ihn den Abstieg alleine bewältigen zu lassen, wird er natürlich von dem Bergführer begleitet. Nur was passiert mit Phillip, der mit dem erkrankten Fabian und dem Guide ein Team gebildet hat? Bereits vor dem Start wurde uns erklärt, dass ein Bergführer eigentlich nicht mit drei Teilnehmern in einer Gruppe den Gipfel erklimmen kann. Das letzte Stück des Aufstiegs sei dafür einfach zu gefährlich, so die erfahrenen Bolivianer. Die Guides beratschlagen sich deswegen kurz – und scheinen wohl zu dem Entschluss gekommen zu sein, dass es besser wäre, wenn noch jemand die Besteigung des Berges abbrechen würde, damit zwei Bergführer mit je zwei Personen weitergehen können.
Sie sprechen Daniela an – und fragen, ob sie sich denn noch fit fühle, ob sie sich den Aufstieg immer noch zutraue? Indirekt wird sie somit zum Umkehren gedrängt. Doch sie lässt sich nicht beirren – und teilt ihnen mit, dass es ihr gut gehe und sie nicht daran denke, umzukehren. Nach einer weiteren Beratungsphase darf sich Phillip Tor und Claude anschließen. Ob sie zu dritt aber auch das letzte Stück bis zur Spitze des Berges antreten dürfen, will ihr Bergführer erst weiter oben entscheiden.
Endlich geht es weiter. Der Berg wird immer steiler. Einige hundert Meter später steigt das Gelände auf einmal extremer an. Juan weist uns an, den Eispickel über uns in die harte Schneedecke zu schlagen und dann nach und nach den Hang hinaufzuklettern. Ein Kraftakt steht uns bevor. Es ist immer noch dunkel, wir können dementsprechend nicht sehen, wie weit der Weg ist, den wir auf diese energieverschleißende Art und Weise zurücklegen müssen. Wir benötigen rund zehn Minuten, das schätzen wir zumindest, als wir die steile Passage bewältigt haben. Zum Glück legen wir eine kurze Verschnaufpause ein. Diese ist dringend notwendig, wir sind richtig außer Atem.
Auch nach dieser Anstrengung fühle ich mich noch fit. Ich bin stolz und glücklich, diese Herausforderung erfolgreich gemeistert zu haben. In diesem Moment habe ich das Gefühl, dass ich noch Stunden den Berg hinauflaufen könnte. Freu Dich nicht zu früh, sage ich leise zu mir selbst. Nicht, dass es ein Trugschluss ist, denn noch haben wir den Gipfel nicht erreicht.
Daniela geht ebenfalls weiterhin tapfer den Berg hinauf. Sie hört in sich hinein – und ab und zu fragt sie Juan nach einem kurzen Stopp. Unser Bergführer entspricht den Wünschen, ganz glücklich scheint er darüber aber nicht zu sein. Zu viele Pausen würden Kopfschmerzen fördern, meint er. Wir sollen uns also nicht so anstellen und weitergehen, könnte man es auch deuten. Zimperlich gehen die Guides mit uns Bergsteigertouristen also nicht um. Dies hatten wir aber bereits vor unserer Tour von jemandem gehört, unerwartet trifft uns die leicht fordernde Einstellung von Juan somit nicht.
Mittlerweile sind wir über dreieinhalb Stunden unterwegs. Juan bleibt stehen – und dreht sich zu uns um. „Wie fühlt Ihr Euch?“, fragt er uns eindringlich. Wir sagen, dass alles bestens ist. „Wirklich? Das ist wichtig, denn jetzt müsst Ihr hundertprozentig konzentriert sein.“ Wir nicken. Er spricht weiter: „Wir sind hier am Beginn des Aufstiegs zum Gipfel. Und dieser hat es in sich. Hört also genau auf meine Anweisungen.“ Er zeigt Richtung Bergspitze. Die letzten Höhenmeter, die wir hinaufsteigen müssen, liegen vor uns. Unser Herzschlag wird schneller.
Die Eispickel nutzen wir nun wieder intensiver, denn es geht steil nach oben. Dann stehen wir auf einem schmalen Grat, der zum Gipfel führt. Beide Stiefel passen gerade so nebeneinander. Auf der rechten Seite des Weges befindet sich eine leichte Erhöhung aus gefrorenem Schnee, wo wir unsere Eispickel hineinbohren können. Als Sicherung. Schließlich geht es dahinter in die Tiefe. Auf der linken Seite des Pfads gibt es diese Erhöhung nicht, sondern ausschließlich abschüssiges Gelände. Ein Fehltritt kann hier fatale Folgen haben, denke ich, als ich vorsichtig einen Fuß vor den anderen setze.
Das Seil, das zwischen uns gespannt ist, sollen wir stramm halten, ruft unser Bergführer Juan, als wir uns weiter Richtung Gipfel vortasten. Langsam. Trotzdem bleibe ich einmal kurz mit einem meiner Schuhe an dem anderen hängen. Ich gerate für den Bruchteil einer Sekunde aus dem Gleichgewicht, fange mich aber. Nichts ist passiert. Ich atme schwer. Die Kraft ist aus meinem Körper gewichen. Schlagartig. Eben hätte ich noch Bäume ausreißen können, jetzt fühlen sich meine Beine wie Pudding an.
Pause. Ich schaue zum Ziel unserer Bergtour auf – und frage mich in diesem Moment, warum ich dies eigentlich mache? Um mich zu beweisen? Meine körperlichen und mentalen Grenzen auszutesten? So ganz genau weiß ich es in diesem Moment nicht. Sicher ist aber, dass diese Grenzen nicht mehr weit weg sind.
Zum Glück aber auch der Gipfel nicht mehr. Rund eine halbe Stunde benötigen wir, bis dieser ganz nah ist, bis wir die Spitze des Huayna Potosí sehen können. Wenig später setzen wir die ersten Schritte auf den kleinen Gipfelbereich, auf den höchstens rund acht Personen gleichzeitig gefahrlos Platz finden. Ein Bergführer ist mit seinem Schützling bereits dort. Wir kommen nach knapp über vier Stunden als zweite Gruppe des Tages am Gipfel an. Unversehrt. Platt. Aber vor allem glücklich.
Ein Hochgefühl setzt ein, als Juan uns gratuliert. „Ihr habt 6.088 Meter bezwungen“, sagt er grinsend. Auch wir strahlen. Und müssen uns hinsetzen. Die Sonne geht auf. Noch schimmert sie etwas zaghaft am dunklen Rand des Horizonts. Doch dann übernimmt der gelb-rote Schimmer die Oberhand, bis unsere Umgebung zu erkennen ist. Zum einen sehen wir andere Berge der Gebirgskette Cordillera Real, zum anderen die sogenannten Yungas, das Gebiet, das bis ins Amazonasbecken abfällt.
Ein überwältigender Ausblick, den wir 20 Minuten genießen können. Solange bleiben wir ungefähr auf dem Gipfel. Danach müssen wir den Abstieg beginnen, denn nachrückende Gruppen pochen darauf, ebenfalls die Spitze des Berges zu erreichen.
Da wir denselben schmalen Grat hinunterklettern müssen, den andere Bergsteiger gerade nach oben gehen, wird der Abstieg auf den ersten Metern zur Tortur. Das erste Mal, als sich unsere Wege mit einer anderen Gruppe kreuzen, können wir auf die seitliche Erhöhung ausweichen. Beim zweiten Aufeinandertreffen mit Nachrückern ist dies leider nicht möglich, da an diesem Teil des Kamms die erhöhte Eisbarriere unterbrochen ist. „Was nun?“, frage ich Juan leicht verzweifelt. Seine Antwort beruhigt mich nicht: „Wir hängen uns mit unseren Eispickeln in die Wand.“ Aha. Klar. Ist logisch. Mir fehlen die Worte, ich schaue ihn ungläubig an. „Es gibt keine Alternative“, sagt er, um seiner Aussage Nachdruck zu verleihen.
Nacheinander steigen wir in den Hang hinab. Ich fange an. Der in die Schneedecke gebohrte Eispickel ist meine Versicherung, denke ich, als ich die Steigeisen fest in die Eiswand ramme, um noch mehr Halt zu haben. In dieser Position müssen wir nur eine Minute ausharren. Diese kurze Zeit reicht allerdings aus, um meine Knie zum Schlottern zu bringen.
Dann ist der schwierigste Teil des Abstiegs geschafft. Insgesamt benötigen wir zwei Stunden, bis wir zur Hütte gelangen, in der unsere restlichen Gegenstände sind. Dort haben wir 30 Minuten Zeit, um uns umzuziehen, unseren Rucksack zu packen und durchzuatmen, bevor es zum Refugio weitergeht.
Spätestens auf diesem letzten Stück spüre ich jeden Muskel und Knochen in meinem Körper. Ich fühle mich wie ein sich automatisch fortbewegender Ganzkörperschmerz, als wir am Ausgangspunkt unserer Bergsteigertour gegen elf Uhr am Vormittag ankommen.
Wir setzen unsere schweren Rucksäcke ab, nehmen erschöpft auf einem Stuhl Platz, blicken Richtung Huayna Potosí und ich sage zu Daniela: „Vor einigen Stunden waren wir noch da oben. Wahnsinn.“
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Antworten
Hi ihr beiden,
Ich plane im Mai eine Reise nach Südamerika und wäre Ende Mai in La Paz. Wie hieß denn die Agentur bei der ihr gebucht hat und was waren die Kosten?
Liebe Grüße und Danke für den super Blog den ihr habt!Andy
Hallo Andy, vielen Dank für Deinen Kommentar. Hier ist der Touranbieter: http://huayna-potosi.com/aboutus.html. Die Tour hat umgerechnet rund 115 Euro pro Person gekostet (Preis Nebensaison). Wir wünschen Dir ganz viel Spaß in Südamerika – und viel Erfolg bei der Bergbesteigung. Liebe Grüße.
Hey ihr beiden,
hat mir sehr Spaß gemacht, euren Artikel zu lesen! Man fiebert richtig mit. Könntet ihr mir sagen, wie ihr an den ›Doctor‹ gekommen seid? Danke schon einmal!
Hey Simon, vielen Dank für Deine Nachricht. Klasse, dass Dir die Geschichte gefallen hat. Hier ist die Webseite des Touranbieters: http://huayna-potosi.com/aboutus.html
Sehr schöner Bericht! Toll geschrieben! Wir haben so richtig mitgefiebert und sind beeindruckt, dass ihr es bis zum Gipfel (und glücklicherweise auch zurück) geschafft habt. Hut ab!
Vielen Dank für das tolle Kompliment. Wir freuen uns sehr, dass Ihr mitgefiebert habt – und gut, dass wir gesund und munter wieder vom Berg heruntergekommen sind 🙂 Liebe Grüße.
Sehr schöner Bericht, da kommen Erinnerungen an meinen Aufstieg hoch, der nun allerdings schon 6 Jahre her ist:
http://www.zerinnerung.de/reise-suedamerika/bolivien-reise-suedamerika/tag-3-grenzerfahrung-auf-6088-hohenmetern/486Vielen Dank, Felix. Und unsere Eindrücke ähneln sich in der Tat: Denn Tag drei war auch eine Grenzerfahrung für uns. Liebe Grüße.
Liebe Daniela, lieber Christian,
Respekt vor einer solchen Leistung! Mitten in der Nacht nicht wirklich ausgeschlafen in mehreren tausend Metern Höhe eine schneebedeckten Gipfel zu besteigen, ist sicherlich nicht jedermanns Vorstellung von »Urlaub« 😉
Der Dank für die Mühen ist aber eben nicht nur der Ausblick, sondern die ewige Erinnerung an das Geschaffte, die regelrechte Knochenarbeit und den Lohn.Liebe Kathrin, so ist es, dieses Abenteuer werden wir garantiert nicht vergessen, ein toller Lohn für die Anstrengungen, die uns aber die meiste Zeit viel Spaß gemacht haben 🙂 Herzlichen Dank für Deinen Kommentar.
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