Gefangener des Hausboots

Mei­ne ers­te Begeg­nung mit Indi­en hät­te kaum schlech­ter lau­fen kön­nen. Auf mei­ner ers­ten gro­ßen Rei­se fand ich mich gleich nach mei­ner Ankunft in einer Grenz­si­tua­ti­on wie­der. Nichts­ah­nend war ich in eine üble Fal­le getappt…

Ich war ein Green­horn; ich hat­te mich das ers­te Mal allein mit dem Ruck­sack in die Welt gewagt. Mei­ne Rei­se hat­te mich über Ita­li­en und Grie­chen­land nach Istan­bul geführt. Die Idee, auf dem Land­weg wei­ter­zu­rei­sen, hat­te ich wegen der ira­ni­schen Revo­lu­ti­on auf­ge­ge­ben. Also war ich nach Delhi geflo­gen.

Istan­bul ist eine mon­dä­ne Metro­po­le – auf Delhi konn­te sie mich nicht vor­be­rei­ten. Nicht mal im Ansatz. Die­se Erkennt­nis über­fiel mich noch im Flug­ha­fen­ge­bäu­de. Zahl­lo­se Bli­cke las­te­ten schwer auf mir und schie­nen mich zu durch­boh­ren. Ich fühl­te mich nackt. Mich über­fie­len schlim­me Vor­ah­nun­gen, die sich schon in der Nacht von Dubai mei­ner bemäch­tigt hat­ten. Lang­sam keim­te in mir die Gewiss­heit, wie wenig mei­ne ursprüng­li­chen Vor­stel­lun­gen mit der Rea­li­tät zu tun hat­ten.

Die Anspan­nung, die ich emp­fand, als ich das Flug­ha­fen­ge­bäu­de ver­ließ, war gren­zen­los. Inner­halb weni­ger Minu­ten hat­te die feuch­te Hit­ze mei­ne Klei­dung durch­tränkt. Ich fühl­te mich, als hät­te man mir mit dem Vor­schlag­ham­mer auf den Kopf geschla­gen. Als mich die ers­te Wel­le des indi­schen All­tags über­roll­te, war ich fas­sungs­los. Ich sah nur Cha­os. Was zur Höl­le hat­te ich mir nur dabei gedacht, allein dort­hin zu rei­sen? Rat­los stand ich da, fühl­te mich unend­lich allein und wuss­te nicht, wo ich anfan­gen soll­te. Ich setz­te mich auf den Bord­stein, rauch­te zwei Ziga­ret­ten und ver­such­te, mich zu sam­meln. Ange­spannt betrach­te­te ich die hek­ti­sche Sze­ne­rie um mich her­um. Ich konn­te die Ges­ten der Men­schen kaum deu­ten. Das Leben um mich her­um pul­sier­te, doch mir war die­se Welt völ­lig fremd. Panik stieg in mir hoch.

Die­sen Schock haben mir auch vie­le ande­re Indi­en­rei­sen­de beschrie­ben. Ihr Glück war, dass sie sich bald in einer der fried­li­chen Oasen Indi­ens wie­der­fan­den, die man als Neu­an­kömm­ling braucht. Man „flüch­te­te“ an Orte wie Dha­ramsa­la, Mana­li oder Push­kar. Dort fin­det sich Zeit, den ers­ten Kul­tur­schock zu ver­dau­en. Delhi-Lieb­ha­ber sind eine ech­te Rari­tät. In den Oasen trifft man auf ande­re Rei­sen­de, mit denen man sich aus­tau­schen kann. Das befreit unge­mein. Wenn ich gewusst hät­te, was auf mich war­ten wür­de, wäre ich schrei­end davon­ge­lau­fen.

Wäh­rend ich einen offen­sicht­lich indie­n­er­fah­re­nen Rei­sen­den dabei beob­ach­te­te, wie er zur nächs­ten Rik­scha rann­te und davonbrauste,versuchte ich zöger­lich, ein paar Infor­ma­tio­nen zu erhal­ten. Die Prei­se, die mir die win­di­gen Gestal­ten, die vor dem Flug­ha­fen rum­lun­ger­ten, für den Trans­port in die Stadt nann­ten, waren völ­lig uto­pisch. Ich dach­te an die Berich­te von Betrü­gern, die ich gele­sen hat­te. Ich hol­te tief Luft und ent­schied mich für ein Pre­paid Taxi. Erst mal muss­te ich irgend­wo ankom­men. Als ich das Ticket in Hän­den hielt, wink­ten mir Fah­rer aus einer gan­zen Kolon­ne von Fahr­zeu­gen zu. Unbe­hol­fen bestieg ich das erst­bes­te.

Unse­re Fahrt in die Stadt führ­te über eine stark befah­re­ne Stra­ße. Der unglaub­li­che Smog ver­rin­ger­te das Sicht­feld auf höchs­tens hun­dert Meter. Der Fahr­stil der Stra­ßen­teil­neh­mer war purer Wahn­sinn. Hat­te ich gedacht, dass die Kre­ter risi­ko­be­rei­te Fah­rer sind, erschie­nen sie mir nun als die Aus­ge­burt der Vor­sicht. Dar­an hat­te ich mich jedoch schnell gewöhnt, kurz­zei­tig zau­ber­te sich mir sogar ein Grin­sen ins Gesicht. Irgend­wie war das nach mei­nem Geschmack. Das mul­mi­ge Gefühl blieb. Mein Herz häm­mer­te wild in mei­ner Brust. Der Fah­rer hielt am Sei­ten­strei­fen und bat mich, in das Gefährt sei­nes Bru­ders umzu­stei­gen. Ich war ver­wun­dert. Ich ahn­te nicht, dass man mich als poten­ti­el­les Opfer aus­er­ko­ren hat­te.

So famos die Idee war, auf einen Rei­se­füh­rer zu ver­zich­ten – in die­sem Moment hät­te er mich viel­leicht war­nen kön­nen. Die Masche war ein Dau­er­bren­ner. Mei­ne ein­zi­ge Infor­ma­ti­ons­quel­le war ein ver­al­te­tes ADAC-Maga­zin. Das ent­hielt eine ein­zi­ge Emp­feh­lung in der Bud­get-Klas­se. Dort woll­te ich mein Glück ver­su­chen. Der neue Fah­rer hielt vor dem Tou­rist Infor­ma­ti­on Cen­ter, um sich nach der Adres­se zu erkun­di­gen. Mir schwan­te nichts Böses.

Farokh war ein jun­ger, drah­ti­ger Bur­sche mit einem gewin­nen­den Lächeln. Auf Anhieb mach­te er auf mich einen sym­pa­thi­schen, zuge­wand­ten und seriö­sen Ein­druck. Das Hotel kann­te er nicht. Er bot mir an, den­noch für einen Moment zu ver­schnau­fen. Er reich­te mir einen Tee und offe­rier­te mir eine Ziga­ret­te. Dank­bar nahm ich an. Ich war über­mü­det, erschöpft und ver­un­si­chert und erleich­tert, das ers­te rich­tig freund­li­che Gesicht zu sehen. Mir gefiel sein fei­ner Sinn für Iro­nie. Farokh erklär­te mir, dass heu­te ein Fest in Delhi gefei­ert wur­de und dass es unmög­lich sei, ein bil­li­ges Hotel in Delhi zu fin­den. Ich glaub­te ihm nicht recht. Er bot mir an, von sei­nem Büro aus zu tele­fo­nie­ren. Ich wähl­te die Num­mer des Hotels. Man sag­te mir, alle Zim­mer sei­en aus­ge­bucht.

Dezent eröff­ne­te Farokh den Small Talk. Fast bei­läu­fig erkun­dig­te er sich nach mei­nen Rei­se­plä­nen. Ich schwank­te noch, ob ich mich erst Rich­tung Raja­sthan oder in den Hima­la­ya auf­ma­chen soll­te. Er sag­te das ein­zig Rich­ti­ge: Woll­te ich tat­säch­lich noch in den hohen Nor­den, sei jetzt der rich­ti­ge Zeit­punkt, bevor es eisig kalt wur­de. Raja­sthan wür­de mir nicht davon­lau­fen. Dann wür­de ich eben gleich wei­ter­rei­sen.

Ich kön­ne flie­gen, mein­te Farokh. Mein Bud­get sprach für den Bus. Er gab mir die Num­mer eines Bus­un­ter­neh­mens. Dort erfuhr ich, dass ich frü­hes­tens in zwei Tagen fah­ren kön­ne.

Es fällt mir heu­te schwer, mir vor­zu­stel­len, wel­che Dyna­mik unser Gespräch ent­wi­ckelt haben muss; ich begann, ihm zu ver­trau­en. Es war wohl eine Mischung: zum einen hat­te er gro­ße Erfah­run­gen mit sol­chen Situa­tio­nen und er konn­te sich gut in mich hin­ein­ver­set­zen. Er fand immer den rich­ti­gen Ton. Er bie­der­te sich nicht an, er schien auf nichts zu drän­gen, er besaß Geduld. Er umkreis­te mich wie ein Raub­tier. Ich hin­ge­gen woll­te nur raus aus der Stadt. Zumin­dest irgend­wo­hin, wo es ruhig war und ich schla­fen konn­te. Mich hat­te das unan­ge­neh­me Gefühl beschli­chen, dass mei­ne Ent­schei­dung, nach Indi­en zu rei­sen, nur der Plan eines Wahn­sin­ni­gen gewe­sen sein konn­te.

Nun erzähl­te er mir von sei­ner Fami­lie, die im hohen Nor­den auf einem wun­der­vol­len See in einem Haus­boot leb­te. Mich reiz­te der Gedan­ke, dass es sich um einen Geheim­tipp zu han­deln schien. Er mach­te kei­nen Hehl dar­aus, dass der Auf­ent­halt dort für indi­sche Ver­hält­nis­se recht teu­er war. Es waren die­se Momen­te von Ehr­lich­keit, die mich über­zeug­ten. Dies sei ein guter Ort, um sich lang­sam mit der indi­schen Kul­tur ver­traut zu machen. Ein wei­te­rer Bonus­punkt schien die Tat­sa­che zu sein, dass ich von dort aus direkt nach Lad­akh wei­ter­rei­sen konn­te – dort­hin woll­te ich auf jeden Fall. Es war kei­ne Kurz­schluss­ent­schei­dung. Zunächst mach­te er mir ein unver­bind­li­ches Ange­bot. Das war weit jen­seits mei­nes Bud­gets, und ich hat­te auch kei­nes­wegs vor, dort­hin zu rei­sen. Noch war es ein vager Gedan­ke. Doch er begann sich in mir fest­zu­setz­ten. War­um eigent­lich nicht?

Drei Japa­ner tauch­ten im Büro auf. Sie wür­den am nächs­ten Tag zum Haus­boot rei­sen. Ganz so hirn­ris­sig schien die Idee nicht zu sein. Als ich dar­über nach­dach­te, was mir der Flug und der Auf­ent­halt wert sein moch­ten, hat­te er mich am Wickel. Nach zähen Ver­hand­lun­gen erziel­ten wir eine Über­ein­kunft.

Eigent­lich hat­te ich kei­ne Ahnung, wohin ich wirk­lich rei­sen wür­de. Ich ließ mir zwar den See auf einer Land­kar­te zei­gen, aber aus irgend­ei­nem Grund begriff ich gar nichts. Der Name Kasch­mir fiel nicht ein­mal – es gab kei­ne Asso­zia­ti­ons­ket­ten, die in Gang gesetzt wur­den. Ich ließ mich völ­lig über­rum­peln.

Erst als ich für die Rei­se bezahl­te, beschlich mich erst­mals ein ungu­tes Gefühl. Immer wie­der fum­mel­te Farokh an dem Kre­dit­kar­ten­le­se­ge­rät her­um und wie­der­hol­te den Vor­gang. Glück­li­cher­wei­se han­del­te es sich um eine auf­lad­ba­re Pre­paid­va­ri­an­te, so dass dies ohne Fol­gen blieb. In mir schrie es auf. Irgend­et­was lief gehö­rig schief. Den­noch pro­tes­tier­te ich nicht. Ich fühl­te mich erstarrt und aus­ge­lie­fert. Die Fal­le war zuge­schnappt. Lang­sam lüf­te­te sich der Schlei­er der Erkennt­nis.

Kaum war der Deal über die Büh­ne, lud er mich auf einen Joint ein. Schon fühl­te ich mich wie­der ein wenig ver­we­gen. Das war doch alles ver­rückt, oder nicht? Was für ein Start mei­nes Indi­en­aben­teu­ers. Das pass­te irgend­wie zu mir.

Als Buchungs­be­leg erhielt ich schließ­lich eine form­lo­se Quit­tung ohne Geld­be­trag. Nicht mal ein Flug­ti­cket. Das bekä­me ich abends. Teil der Ver­ein­ba­rung war, dass ich bei Farokh zu Hau­se über­nach­ten wür­de, um die teu­re Hotel­über­nach­tung zu umge­hen. Doch damit gab ich mich nicht zufrie­den. Ich dräng­te auf rich­ti­ge Unter­la­gen. Doch die Stim­mungs­la­ge dreh­te sich nun radi­kal. Eine Rei­he rich­tig unge­müt­li­cher Per­so­nen tauch­te wie aus dem Nichts in dem Rei­se­bü­ro auf. Einer fauch­te mich grim­mig an: »You have to go now!« Ich spür­te mei­ne Ohn­macht. Sie hat­ten mich abge­zockt. Ich war kurz davor durch­zu­dre­hen.

Farokh ver­such­te mich zu beru­hi­gen. Auf­grund unse­rer neu­ge­schlos­se­nen Freund­schaft spen­die­re er mir und den drei Japa­nern eine kos­ten­lo­se Sight­see­ing-Tour durch Delhi. Das sei alles. Am liebs­ten hät­te ich die gan­ze Rei­se­ver­ein­ba­rung rück­gän­gig gemacht. Das wäre wohl auch das Bes­te gewe­sen; sogar dann, wenn ich alles Geld hät­te abschrei­ben müs­sen.

Die Sight­see­ing-Tour durch Delhi war ein para­no­ider Grenz­gang. Ers­tens woll­te ich noch immer nur eines: schla­fen. Zwei­tens hat­te ich das Gefühl, dass der Fah­rer bei ers­ter Gele­gen­heit mit unse­rem Gepäck abhau­en wür­de und ich bereits mei­nen gan­zen Indi­en­trip in den Sand gesetzt hat­te. Und drit­tens hat­te ich seit zwei Mona­ten nicht mehr gekifft; in der Kom­bi­na­ti­on wähn­te ich mich inmit­ten einer Kata­stro­phe.

Beson­ders am India Gate, dem gro­ßen Tri­umph­bo­gen der Eng­län­der, wäre ich am liebs­ten im Boden ver­sun­ken. Ich wur­de von allen Sei­ten bedrängt. Hun­dert jun­ge Män­ner woll­ten ein Bild mit oder von mir machen. Die einen taten das ganz ver­stoh­len, die ande­ren aggres­siv. Da stand ich nun, umringt von gaf­fen­den Frem­den, und glaub­te alles ver­lo­ren. Das hat­te ich mir alles anders vor­ge­stellt!

Der Fah­rer lie­fer­te uns am Ende jedoch wie ver­ein­bart bei mei­nem Freund Farokh ab. Viel­leicht hat­te ich mich in die gan­ze Sache nur rein­ge­stei­gert. Jetzt war ich gespannt, ob wir tat­säch­lich am nächs­ten Tag nach Sri­na­gar flie­gen wür­den. Wäh­rend Farokh zunächst ver­si­cher­te, alles wür­de glatt gehen, ver­leg­te er sich auf ein »Inschal­lah!«

Da der nepa­le­si­sche House Boy noch ein paar Besor­gun­gen machen muss­te, ergab sich die Gele­gen­heit, etwas vom All­tag in den Stra­ßen zu sehen, indem ich ihn beglei­te­te. Wir fuh­ren mit einer Fahr­rad­rik­scha. Tat­säch­lich fand in den engen Stra­ßen Süd­delhis ein gro­ßes Fest statt. An den Kreu­zun­gen waren rie­si­ge Papp­ma­ché­fi­gu­ren auf­ge­baut, die das Böse reprä­sen­tier­ten. Die­se Figu­ren wur­den mit infer­na­len Schwarz­pul­ver­bau­sät­zen in die Luft gejagt. Immer wie­der kam es zu unkon­trol­lier­ten Explo­sio­nen. Das flöß­te selbst dem Rik­scha­fah­rer Respekt ein.

Ich war ein wenig ver­stört, aber im sel­ben Maße fas­zi­niert. Das ging ja gut los.

Zurück in der Woh­nung durch­fors­te­te ich den ADAC-Rei­se­füh­rer auf der Suche nach Infor­ma­tio­nen. Alles, was ich fand, war ein Bild des Dal-Lakes in Sri­na­gar, auf dem ich bald woh­nen wür­de. Bild­un­ter­schrift: »Sri­na­gar gilt heu­te als ver­bo­te­ne Stadt« – nie hat mich eine Unter­zei­le mehr beun­ru­higt.

Am nächs­ten Mor­gen flo­gen wir tat­säch­lich nach Kasch­mir. Vom Flug­zeug aus hat­ten wir eine über­wäl­ti­gen­de Sicht auf eine der Hima­la­ya-Ket­ten. Ich unter­hielt mich mit mei­ner Nach­ba­rin und notier­te begeis­tert die zahl­rei­chen Tipps von Sehens­wür­dig­kei­ten, die ich unbe­dingt sehen muss­te. Wenn ich geahnt hät­te.

 

Gefan­ge­ner des Haus­boots

 

Am Flug­ha­fen wur­den wir vom Patri­ar­chen der Fami­lie abge­holt. Er begrüß­te uns über­schwäng­lich; ein gesetz­ter, sym­pa­thi­scher, fast sanft wir­ken­der älte­rer Herr. Er strahl­te natür­li­che Wür­de aus. Die Fur­chen auf sei­ner Stirn erzähl­ten von einem beweg­ten Leben. Wir fuh­ren zum Dal-See. Hun­der­te Sol­da­ten und Poli­zis­ten säum­ten die Stre­cke, wir muss­ten meh­re­re Check­points pas­sie­ren. Die Kasch­mir­fra­ge war offen­sicht­lich wei­ter höchst aktu­ell.

Am See ange­kom­men, bestie­gen wir eine shi­ka­ra – eines der klei­nen Boo­te, die an Gon­deln erin­nern. Mit ihnen kann man Rund­fahr­ten auf dem See machen oder die zahl­rei­chen Haus­boo­te errei­chen, die fest in der Mit­te des Sees ver­an­kert sind.

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Nach Ankunft auf dem Haus­boot gab sich auch der Rest der Fami­lie über­aus gast­freund­lich. Neben dem Patri­ar­chen und sei­ner Frau leb­te ihr ältes­ter Sohn Rafiq auf dem Boot. Er hat­te das Geschäft der Rei­se­agen­tur fast voll­stän­dig über­nom­men.

Außer­dem leb­te eine Schwes­ter des Patri­ar­chen dort, die seit einem schwe­ren Trau­ma infol­ge des Todes der Eltern beim schwe­ren Erd­be­ben 2005 nur noch Unver­ständ­li­ches vor sich hin brab­bel­te und sich nur noch krie­chend vor­wärts beweg­te. Schließ­lich gab es noch einen Bediens­te­ten, der aus Tibet stamm­te.

Die Haus­boo­te waren eine Idee der Bri­ten. Zur Zeit ihrer Kolo­ni­al­herr­schaft war ihnen der Erwerb von Land­be­sitz durch den Maha­ra­dscha Kasch­mirs ver­bo­ten wor­den. Das akzep­tier­ten sie, weil sie sich durch die Stüt­zung der loka­len Herr­scher die Zustim­mung der Bevöl­ke­rung sicher­ten. Gleich­zei­tig unter­lie­fen sie die­se Rege­lung mit den fest­ver­an­ker­ten Haus­boo­ten. Spä­ter wur­den auf Schwemm­land zwi­schen den Boo­ten Gär­ten ange­legt. Heu­te ernäh­ren sie tau­sen­de Men­schen.

Der ers­te Abend mit den drei Japa­nern war nett, auch wenn die Gesprä­che auf­grund ihres schlech­ten Eng­lisch rudi­men­tär blie­ben. Ich ent­spann­te mich wie­der ein wenig. Wir befan­den uns in einer para­die­si­schen Umge­bung: Das Haus­boot protz­te mit Holz­schnit­ze­rei­en und die Holz­mö­blie­run­gen im Inne­ren waren exqui­sit.

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Anfangs durf­te ich in einem die­ser wun­der­ba­ren Räu­me über­nach­ten. Man konn­te sich unschwer vor­stel­len, wie luxu­ri­ös die Eng­län­der hier gelebt hat­ten. Noch heu­te ist der See bei indi­schen Hoch­zeits­ge­sell­schaf­ten extrem beliebt. Hier spie­len vie­le roman­ti­sche Sze­nen der Bol­ly­wood-Fil­me.

Der Blick vom Haus­boot reich­te über den See auf die ers­ten Vor­ge­bir­ge des Hima­la­ya und einen Teil der Stadt, die einst wegen ihrer Was­ser­stra­ßen als „Vene­dig des Nor­dens“ bekannt war. Man konn­te die Para­dies­gär­ten erah­nen, die von den Moguln ange­legt wor­den waren. Kasch­mir war damals in vol­ler Blü­te.

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Mor­gens um vier Uhr erwach­te ich das ers­te Mal vom Gesang der Muez­zins, der von vier Mina­ret­ten über den See schall­te. Für die Fami­lie war das der Weck­ruf. Es war Rama­dan, sie aßen, bevor die Son­ne auf­ging. Nach Son­nen­un­ter­gang aß ich gemein­sam mit der Fami­lie. Meist bestan­den die Mahl­zei­ten aus Reis und in Milch gekoch­tem und scharf gewürz­tem Ham­mel- oder Zie­gen­fleisch.

 

Es dau­er­te nicht lan­ge, bis die Stim­mung erneut kipp­te. Ich woll­te mit den Japa­nern über den Preis für ihres geplan­tes Trek­kings spre­chen. Der Patri­arch hat­te einen Fet­zen unse­rer Unter­hal­tung auf­ge­schnappt, wink­te mich harsch zu sich und stell­te mich zur Rede. Als wir außer Hör­wei­te waren, ließ er sei­ne Mas­ke fal­len. Etwas Ver­schla­ge­nes trat in sei­ne Augen. Aggres­siv blaff­te er mich an; ob mir klar sei, welch guten Preis sie mir machen wür­den. „Don›t des­troy our busi­ness!“ brüll­te er mir ins Gesicht. Ich blick­te in eine hass­erfüll­te Frat­ze vol­ler Raff­gier und Ver­ach­tung. In die­sem Moment las ich nichts Mensch­li­ches in sei­nen Zügen. Ich war geschockt von die­ser hef­ti­gen Explo­si­on. Ich hat­te mich mit den Fal­schen ein­ge­las­sen. Die Schlin­ge hat­te sich um mei­nen Hals fest­ge­zo­gen. Die Bedro­hung lag wie eine schwar­ze Wol­ke im Raum. Es soll­te nicht die letz­te Kon­fron­ta­ti­on blei­ben.

Rafiq stand sei­nem Vater in Nichts nach. Ich hat­te sogar den Ein­druck, dass er noch mehr Falsch­heit in sich trug und eis­kalt war. In sei­nem gan­zen Wesen erschien er bedroh­lich. Nie­mand, mit dem man sich anle­gen soll­te. Sein Lieb­lings­satz war: I’m tal­king to you honest­ly! Ger­ne ver­si­cher­te er mir, ich hät­te nun ein zwei­tes Zuhau­se gefun­den, in dem ich immer als Bru­der will­kom­men sei – ein paar Mal muss­te ich an mich hal­ten, um ihm für die­se Ver­lo­gen­heit nicht ins Gesicht zu spu­cken!

 

Der working boy aus Tibet war alles ande­re als glück­lich. Man behan­del­te ihn wie Dreck. Die Frau des Patri­ar­chen war die ein­zi­ge Aus­nah­me. Sie war für­sorg­lich und herz­lich zu allen. Manch­mal hat­te ich den Ein­druck, dass sie nicht ein­ver­stan­den war mit den Metho­den ihres Man­nes und ihres Soh­nes.

 

Nach­dem die Japa­ner in aller Herr­gotts­frü­he und ohne mein Wis­sen zum Trek­king auf­ge­bro­chen waren, befand ich mich wie in einem gol­de­nen Käfig. Mir war schlei­er­haft, wie ich mich aus die­ser Situa­ti­on her­aus­win­den konn­te. Die Atmo­sphä­re auf dem Boot war ver­gif­tet. Es war unmög­lich, etwas auf eige­ne Faust zu unter­neh­men. Allein sei es zu gefähr­lich in der Stadt. Ich kam auch gar nicht erst vom Boot weg. Für Aus­flü­ge jeder Art war ich auf den Good­will mei­ner »Gast­fa­mi­lie« ange­wie­sen. Wenn man sich auf einem die­ser fal­schen Haus­boo­te befin­det, ist es unmög­lich, eine shi­ka­ra zu ergat­tern, die einen zurück an den Bou­le­vard bringt.

Der Traum vom Hima­la­ya war plötz­lich weit ent­fernt, dabei waren die Ber­ge fast zum Grei­fen nahe. Aber ich konn­te sie aus eige­ner Kraft nicht errei­chen.

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Ich fühl­te mich unglaub­lich ein­sam und aus­ge­lie­fert. Ich besaß kein Han­dy und bat um einen Anruf. Ich muss­te eine ver­trau­te Stim­me hören. Man gestat­te­te mir den Anruf, allei­ne ließ man mich nicht: »Ich bin in Kasch­mir«, konn­te ich mei­ner Mut­ter mit­tei­len, bevor die Ver­bin­dung abbrach. Das dürf­te sie kaum beru­higt haben…

Die Machen­schaf­ten auf dem Boot wur­den immer ein­deu­ti­ger; es war kein Zufall, dass mein Gespräch mit den Japa­nern belauscht wor­den war. Das gehör­te alles zur Ein­schüch­te­rungs­tak­tik. Man woll­te um jeden Preis ver­mei­den, dass sich Tou­ris­ten gegen­sei­tig in ihrem Miss­trau­en und Unwohl­sein unter­ein­an­der bestärk­ten.

Das wur­de nie direkt aus­ge­spro­chen, statt­des­sen wur­de immer auf Respekt ver­wie­sen. Bei dem fran­zö­si­schen Pär­chen, mit dem ich ger­ne gemein­sam in die Ber­ge auf­ge­bro­chen wäre, schob man vor, es sei respekt­los, sie auf ihrem honey moon trip zu stö­ren. Dabei wären wir ger­ne zusam­men auf­ge­bro­chen. Den bei­den war anzu­se­hen, dass auch sie sich in ihrer Haut nicht wohl fühl­ten. Doch immer­hin hat­ten sie ein­an­der.

Häu­fig tauch­te noch ein wei­te­rer Bru­der auf. Die ein­zi­gen ande­ren Besu­cher von außen waren ein geschäfts­tüch­ti­ger Anti­qui­tä­ten­hand­ler, und eines der Boo­te, das mit Auf­bau­ten in einen schwim­men­den Shop umge­wan­delt wor­den war.

Mag sein, dass es irgend­ei­ne Mög­lich­keit gege­ben hät­te, von dort weg­zu­kom­men, aber ich war völ­lig ver­un­si­chert. Die Män­ner waren unbe­re­chen­bar und gefähr­lich.

Ent­we­der ich stell­te mich halb­wegs gut mit ihnen und sah zu, dass ich ver­nünf­tig und unbe­scha­det aus die­ser Num­mer wie­der raus­kam, oder ich stell­te mich gegen sie, was den Ver­lust mei­ner Sachen bedeu­tet hät­te oder Schlim­me­res.

 

Immer häu­fi­ger frag­ten sie mich, ob ich nicht auf eine Trek­king­tour gehen wol­le. Das war natür­lich mei­ne Absicht, doch ich war davon aus­ge­gan­gen, dass ich die­se Tour auf eige­ne Faust ange­hen konn­te. So hat­te Farokh das in Aus­sicht gestellt.

Was hät­te ich machen sol­len? Die acht bezahl­ten Näch­te auf dem Boot ver­brin­gen und sehn­suchts­voll den Hima­la­ya aus der Fer­ne betrach­ten sol­len? Mir jeden Tag geheu­chel­te Freund­lich­keit anhö­ren? Lang­sam dem Wahn­sinn ver­fal­len?

So schluck­te ich mei­nen Ärger über ihr ver­lo­ge­nes Gere­de her­un­ter, sie wür­den mir aus Sym­pa­thie einen guten Preis machen, und wil­lig­te schließ­lich nach län­ge­rer Ver­hand­lung in einen über­teu­er­ten Vier­ta­ge­strip in die Ber­ge ein.

 

lost in para­di­se

 

Auf der Fahrt in den Nord­os­ten wur­de die extre­me Mili­tär­prä­senz in Kasch­mir noch deut­li­cher. Ein Mili­tär­ge­län­de reih­te sich ans ande­re – von Poli­zei­aus­bil­dungs­la­gern, rie­si­gen Armee­stütz­punk­ten bis hin zu den »Storm Tro­o­pers«. Ein bedrü­cken­der Anblick; Kasch­mir war noch immer ein Pul­ver­fass – eine der Achil­les­fer­sen der gesam­ten Regi­on. Unter­wegs wur­de der Jeep mit Stei­nen bewor­fen.

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Wir fuh­ren durch eine zer­sie­del­te Berg­re­gi­on. Nach zwei­stün­di­ger Fahrt erreich­ten wir ein klei­ne­res Berg­dorf in einem male­ri­schen Tal. Wir park­ten vor einem archai­schen Hin­du­tem­pel. Hier ende­te die Stra­ße. Nur ein Tram­pel­pfad führ­te zu den letz­ten Häu­sern und Hüt­ten des Tals. Sie waren noch nicht an das Strom­netz ange­schlos­sen. Unser Ziel war eine ein­fa­che Hüt­te. Mein Fah­rer ver­ab­schie­de­te sich und über­gab mich in die Obhut eines Kochs, der in den nächs­ten Tagen mein stän­di­ger Beglei­ter sein wür­de. Noch wuss­te ich das nicht und frag­te mich, was wohl als nächs­tes auf mich war­ten wür­de. Der Koch berei­te­te ein Reis­ge­richt und Tee zu. Er sag­te mir, dass wir am nächs­ten Tag ein Camp strom­auf­wärts bezie­hen wür­den, und stell­te mir einen jun­gen ein­hei­mi­schen Füh­rer vor, mit dem ich mir einen ers­ten Über­blick über das Tal ver­schaf­fen könn­te. Er muss­te sich noch um die indi­schen Tou­ris­ten küm­mern, die bald wie­der nach Hau­se rei­sen wür­den.

Die Blät­ter der Bäu­me leuch­te­ten in den präch­ti­gen Far­ben des Spät­herbs­tes. Das Tal war ein rich­ti­ges Para­dies. Es fiel mir schwer, das ange­sichts der Umstän­de rich­tig zu wür­di­gen.

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Wir waren erst eini­ge Hun­dert Meter unter­wegs, als mich mein Beglei­ter auf die Sinn­haf­tig­keit einer Kif­fer­pau­se hin­wies. Eigent­lich stand mir noch nicht der Sinn danach, aber ich wur­de schwach. Minu­ten spä­ter war ich völ­lig ver­bla­sen.

Als wir zurück zu der Hüt­te gelang­ten, erkann­te ich es nicht wie­der. Ich dach­te an eine Fal­le. Doch ich war einer Sin­nes­täu­schung auf­ge­ses­sen. So para­no­id war ich in die­sen Tagen. Ich befand mich in einem Zustand stän­di­ger Anspan­nung und Sor­ge, kurz vor einem Ner­ven­zu­sam­men­bruch. Die inne­re Stim­me, die für die nahen­den Kata­stro­phen zustän­dig ist, wie­der­hol­te in einem fort: „Es ist aus, es ist aus…“

Ich war über­zeugt, dass man mich aller Habe berau­ben wür­de. Nichts wür­de mir blei­ben außer der Klei­dung, die ich am Leib trug. Falls ich über­haupt wie­der hier weg­kam. Immer wie­der über­kam mich das Gefühl, mein letz­tes Stünd­lein hät­te geschla­gen. Viel­leicht wür­de mir jemand im Schlaf die Keh­le durch­schnei­den.

Vie­le die­ser Gedan­ken waren irra­tio­nal, schließ­lich konn­te man mich noch wei­ter aus­pres­sen. Ande­rer­seits: Nie­mand wuss­te, wo ich war. Woher soll­te ich wis­sen, wo die Gren­ze lag? Hat­te Rafiq über­haupt Gewis­sens­bis­se? Wie weit wür­de er gehen? Er spiel­te doch mit sol­chen Hor­ror­sze­na­ri­en. Was sie anrich­te­ten, war ihm scheiß­egal.

Ich konn­te mein Den­ken nicht abschal­ten. Wenn sie mich aus­rau­ben woll­ten, wür­den sie es ohne­hin tun; ich konn­te nichts dage­gen machen. Aber zu ech­tem Fata­lis­mus fehl­te mir die Kalt­blü­tig­keit.

Ich hat­te seit mei­ner Kind­heit kein Heim­weh mehr ver­spürt. Doch jetzt ver­miss­te ich Fami­lie und Freun­de. Wie sehr wünsch­te ich mir einen von ihnen an mei­ne Sei­te!

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Mein Ver­trau­en in mei­ne Beglei­ter wuchs ein wenig, nach­dem wir in dem eigent­li­chen »Camp« ange­kom­men waren. Es bestand aus einem ein­fa­chen Zelt, in dem ich über­nach­te­te, und dem Zelt des Kochs, in dem ich mich abends auf­hielt. Es war etwas robus­ter; am Abend hielt es noch für eini­ge Zeit die Wär­me, die beim Kochen über dem Gas­ko­cher ent­stan­den war. Noch bes­ser half der Tee.

Der Koch frag­te mich immer wie­der, wie viel ich für den Aus­flug in die Ber­ge zahl­te. Das woll­te ich ihm nicht ver­ra­ten. Ich schäm­te mich für den über­teu­er­ten Preis; es war offen­sicht­lich, dass er davon nicht pro­fi­tier­te. Er war ein ein­fa­cher Mann und sag­te, er lebe »on zero« – er kön­ne sich und sei­ne Fami­lie mit sei­ner Arbeit Hän­de gera­de so über Was­ser hal­ten.

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Nachts war es unfass­bar kalt. Selbst mit drei Decken und mei­ner kom­plet­ten Klei­der­gar­ni­tur fror ich erbärm­lich. Doch die Umge­bung war beein­dru­ckend. Die bei­den Zel­te lagen direkt neben dem Sindh, der sich nach der Schnee­schmel­ze in einen rei­ßen­den Strom ver­wan­deln wür­de. Schon jetzt war die Strö­mung gewal­tig. Das Tosen über­tön­te alle ande­ren Geräu­sche. Der Him­mel war vol­ler Ster­ne.

Trotz der immensen Anspan­nung schlief ich sel­ten so gut. Auf den Bil­dern sah ich erstaun­lich ent­spannt aus. Wenn es dar­auf ankam, war ich ein guter Schau­spie­ler. Viel­leicht hat mich das vor Schlim­me­rem bewahrt.

Ich erleb­te auch gute Momen­te; immer wie­der gelang es mir, für kur­ze Zeit aus­zu­blen­den, in welch fata­le Situa­ti­on ich mich hin­ein­ma­nö­vriert hat­te.

Dann stieg ich den Hang hin­auf und genoss den weit­läu­fi­gen Blick über das Tal.

Ich war hin und her geris­sen zwi­schen Eupho­rie über die­sen idea­len und natür­li­chen Ort und Hys­te­rie: die Ein­sam­keit quäl­te mich und ich fühl­te mein Leben bedroht. Ich fühl­te mich wie in einem ver­wun­sche­nen Gar­ten; ich war an die­sem para­die­si­schen Ort ver­lo­ren, wie ich ihn mir schö­ner kaum träu­men konn­te.

Ein­zig die regel­mä­ßi­gen Feu­er und der Holz­schlag in den Hang­la­gen deu­te­ten an, dass auch hier die Zeit nicht ste­hen­blieb.

Die Berg­be­woh­ner waren herz­lich und gast­freund­lich. Sie führ­ten offen­sicht­lich ein ent­beh­rungs­rei­ches, aber erfül­len­des Leben. Über Sri­na­gar sag­ten sie, dass von dort noch nie etwas Gutes gekom­men sei.

Tal­auf­wärts von unse­rem Lager­platz gab es kei­ne wei­te­ren Häu­ser. Dort sie­del­ten Noma­den in Stroh­hüt­ten, die mit ihren Tie­ren auf uralten Wegen zwi­schen Som­mer- und Win­ter­la­gern hin und her­zie­hen. Jetzt trie­ben sie die Tie­re zurück in die Täler. Ihre Gesich­ter hat­ten mehr Ähn­lich­keit mit denen der Afgha­nen als der Kash­mi­ri.

Der Höhe­punkt mei­nes Auf­ent­halts war der Trek zum Ganga­bal-See. Ein extrem stei­ler Pfad führ­te vom Tal aus uner­bitt­lich nach oben. Im schnei­den­den Wind war es bit­ter­kalt. Die Luft wur­de immer dün­ner. Wäh­rend des schnel­len Auf­stiegs schlug mir das Herz bis zum Hal­se. Nach zwei Stun­den fühl­te ich mich völ­lig am Ende. Doch es ging noch drei Stun­den wei­ter berg­auf. Für mich als unge­üb­ten Wan­de­rer ohne nen­nens­wer­te Kon­di­ti­on war es eine schier unmensch­li­che Anstren­gung. Irgend­wann schlich ich nur noch hin­ter dem Gui­de hin­ter­her.

Bei guter Sicht hät­ten wir weit ins Gebir­ge schau­en kön­nen, doch die Aus­sicht war durch tief­lie­gen­de Nebel­schich­ten getrübt. Gleich­zei­tig ver­lieh die­se Unschär­fe der Umge­bung etwas Geheim­nis­vol­les.

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End­lich erreich­ten wir den See. 1400 Meter waren wir auf­ge­stie­gen. Hin­ter dem eisi­gen Gewäs­ser rag­te der majes­tä­ti­sche Hara­mukh (5142 Meter) auf.

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Unter­halb war ein wei­te­rer Gebirgs­see sicht­bar. Wir waren von einer gewal­ti­gen Berg­ku­lis­se ein­ge­rahmt. Wir leg­ten eine kur­ze Rast ein und nah­men ein klei­nes Mahl zu uns: gekoch­tes Gemü­se und Kar­tof­feln, Eier, Toast und Mar­me­la­de.

Wir ver­weil­ten nur 10 Minu­ten. Ich wäre ger­ne viel län­ger geblie­ben, um den Aus­blick und die kal­te, fri­sche Luft zu genie­ßen. Die Stil­le war abge­se­hen vom Wind voll­kom­men. Der rau­schen­de Fluss war in die­ser Höhe nicht mehr zu hören. Mein Kör­per schrie nach mehr Erho­lung. Doch es hat­te begon­nen zu schnei­en und mein Füh­rer mahn­te zur Eile. Es half nichts. Auf dem end­lo­sen Weg zurück ins Tal hat­te ich Mühe, über­haupt noch einen Fuß vor den ande­ren zu set­zen. Am liebs­ten hät­te ich mich auf den Boden gewor­fen und wäre nie wie­der auf­ge­stan­den. Ich muss­te mei­ne letz­te Wil­lens­kraft auf­brin­gen. Nach zehn Stun­den waren wir zurück im Tal. Trotz allem hat­te mir das klei­ne Aben­teu­er gut getan. Ich wäre ger­ne noch län­ger an die­sem geheim­nis­vol­len Ort ver­weilt und wäre tie­fer in die kaum berühr­te Natur vor­ge­drun­gen. Aber es kam nicht in Fra­ge, den Hai­en auf dem Haus­boot noch mehr Geld in den Rachen zu wer­fen. Am letz­ten Mor­gen berei­te­te mir der Koch zwei frisch­ge­fan­ge­ne Forel­len zu. Danach fuh­ren wir gemein­sam zurück zum Haus­boot. Nach der Abge­schie­den­heit und der fri­schen Luft war es ver­stö­rend, durch lär­men­de und stin­ken­de Stra­ßen zu fah­ren. Und es gab erfreu­li­che­re Aus­sich­ten, als wie­der zu den Psy­cho­pa­then auf dem Haus­boot zurück­zu­keh­ren.

Rafiq und sein Vater woll­ten mich über­re­den, noch län­ger auf ihrem Boot zu blei­ben und ihre Gast­freund­schaft zu genie­ßen. Doch dies­mal hat­te ich mich gewapp­net. Wort­reich erklär­te ich ihnen, wie ger­ne ich blei­ben wür­de, aber dass dies auf­grund mei­ner Finan­zen unmög­lich sei. Mir war nur noch dar­an gele­gen, mich anstän­dig aus die­ser Sache raus­zu­zie­hen, ohne mein­Ge­sicht zu ver­lie­ren. Ich habe sie in dem Glau­ben gelas­sen, dass ich eines­Ta­ges wie­der­kom­men wür­de. Ich has­se Lügen, aber hier erschie­nen sie mir mehr als ange­bracht.

Am Ende mach­te ich drei Kreu­ze, als ich im Jeep Rich­tung Jam­mu saß. Natür­lich war es kei­ne gute Idee, kei­ne 50 Kilo­me­ter von Abbot­ta­bad ent­fernt eine poli­ti­sche Dis­kus­si­on mit einem bär­ti­gen Fun­da­men­ta­lis­ten anzu­fan­gen, aber das ist eine ande­re Geschich­te.

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Antworten

  1. Avatar von globetourists
    globetourists

    Oh mann…wir füh­len mit…haben in delhi genau das sel­be erlebt aber haben gott­sei­dank nichts gebucht und konn­ten nach eini­gen stun­den und eini­gen reu­se­bü­ros von den »schlep­pern« flie­hen … Hor­ror! Dei­ne sto­ry hat uns grad wie­der an den beginn unse­rer indi­en­rei­se erin­nert! Tol­ler bericht! Lie­be grüs­se vale­rie und tobi von http://www.globetourists.ch

    1. Avatar von Oleander Auffarth

      Vie­len Dank, Vale­rie und Tobi! Da bin ich ja froh, dass ihr noch recht­zei­tig abge­sprun­gen seid, mich haben sie ein­fach über­fah­ren. Es hat mir zwar die ers­te Indi­en­rei­se sehr lan­ge ver­saut, aber ich habe im Nach­hin­ein auch eini­ges ler­nen kön­nen. Trotz­dem kei­ne unein­ge­schränk­te Emp­feh­lung 😉
      Lie­be Grü­ße! Ole­an­der

  2. Avatar von Silina
    Silina

    Immer wie­der auf eine schau­er­lich Wei­se fas­zi­nie­ren­de Geschich­te. Mich wür­de inter­es­sie­ren, war­um du kein Han­dy hat­test – ist die­se Rei­se schon län­ger her?

    1. Avatar von Oleander Auffarth

      Hal­lo Sili­na,

      Vie­len Dank. Mei­ne Geschich­te hat sich 2009 zuge­tra­gen. Ich habe auf mei­nen Rei­sen nie ein Han­dy genutzt, da ich ger­ne uner­reich­bar bin, um mich ganz auf die Frem­de ein­zu­las­sen. Buchun­gen mache ich auch nie im Vor­aus, son­dern suche mir mei­nen Weg mit mei­ner Intui­ti­on. Ver­misst habe ich einen Tele­phon extrem sel­ten. Lie­be Grü­ße! Ole­an­der

  3. Avatar von Christian

    Wun­der­bar geschrie­ben und bewun­derns­wert, dass und wie du dei­ne Geschich­te erzählst.

    Ich bin eben­falls Men­schen des sel­ben Schlags auf­ge­ses­sen, aller­dings in Kam­bo­dscha. Bei mir han­del­te es sich um Trick­die­be, die ihr Hand­werk wun­der­bar in der Ver­füh­rung mit Wor­ten und in dem Auf­bau von Ver­trau­en ver­stan­den. Obwohl mei­ne Odys­see nur 1,5 Tage dau­er­te, habe ich eben­falls alle Pha­sen dei­ner Erleb­nis­se durch­lau­fen. Im End­ef­fekt stand bei mir die Erkennt­nis, dass ich viel­leicht doch nicht so frei­mü­tig ver­trau­en soll­te, wie ich es bis­her auf mei­nen Rei­sen getan habe. Gera­de wenn mensch allei­ne unter­wegs ist und mal wie­der nie­mand weiß wo mensch sich auf­hält.

    Ich habe aus mei­nem Erleb­nis unglaub­lich viel gelernt, viel­leicht auch weil es in einer bis dahin unvor­stell­ba­ren Inten­si­tät – und teil­wei­se auch Bedro­hung- in mei­ne Leben getre­ten war.

    Mei­ne Situa­ti­on bei den Men­schen in Kam­bo­dscha hat mit gezeigt, dass jede Situa­ti­on schnell sehr rela­tiv für Geld­beu­tel und Gesund­heit wer­den kann. Aber sei­en wir mal ehr­lich, ganz tief drin in uns rei­sen wir genau für sol­che Momen­te. Sei­en sie auch noch so unan­ge­nehm, das Lehr­po­ten­ti­al ist eben­so enorm.

    Noch­mal dan­ke, dass du dei­ne Geschich­te so lei­den­schaft­lich mit uns teilst!

    1. Avatar von Oleander Auffarth

      Vie­len herz­li­chen Dank, Chris­ti­an!

      Natür­lich kön­nen einem sol­che Din­ge auch anders­wo pas­sie­ren, mir sind im wei­te­ren Ver­lauf der Rei­se in Raja­sthan noch ein paar rich­tig unge­müt­li­che Typen begeg­net. An Kasch­mir war spe­zi­ell, dass ich tat­säch­lich auf dem Boot fest saß und die Situa­ti­on ange­sichts des omni­prä­sen­ten Mili­tärs ohne­hin ziem­lich undurch­sich­tig ist.
      Ich wür­de nun nicht sagen, dass ich für SOLCHE Momen­te rei­se, wohl aber lie­be ich Grenz­erfah­run­gen, die eben auch Risi­ken beein­hal­ten. Ler­nen durf­te bzw. muss­te ich eine Men­ge über mich. Die Bedro­hungs­si­tua­ti­on hat mir im Ansatz etwas dar­über erzählt, was Men­schen in vie­len Tei­len der Welt stän­dig aus­ste­hen müs­sen. Es gibt am Ende auch Grün­de, war­um mei­ne »Freun­de« auf dem Haus­boot zu dem gewor­den sind, was sie heu­te sind.
      Die Tat­sa­che, wie schwer es mir danach fiel, neu­es Ver­trau­en auf­zu­bau­en, habe ich ihnen wohl am meis­ten übel genom­men. Doch ich habe es wie­der neu gelernt. Lie­ber ver­traue ich ein­mal zu viel, als ein­mal zu wenig. Ich will auch, dass ande­re mir ver­trau­en.
      Aller­dings ist mein Gespür für sol­che Situa­tio­nen gewach­sen. Doch noch immer zie­he ich rela­tiv spät Gren­zen; ich bin viel zu neu­gie­rig, was sich hin­ter allem ver­birgt.

      Ganz lie­be Grü­ße!

      Ole­an­der

  4. Avatar von Ole

    Gran­dio­ser Bericht!
    Ich den­ke, auch ich wäre durch­ge­dreht. Spä­tes­tens beim Koch hät­te ich mei­ne Chan­ce gewit­tert und wäre blind durch die Wild­nis geflo­hen.
    Den Kach­mir­tep­pich hät­te ich längst ver­brannt. 😉

    Bes­te Grü­ße
    Ole

    1. Avatar von Oleander Auffarth

      Hal­lo Ole!

      Dan­ke Dir! Klar habe ich dar­an gedacht, abzu­hau­en. Aber die Vor­stel­lung allei­ne und ohne Geld aus Kasch­mir raus­zu­lau­fen, erschien mir wenig ver­lo­ckend. Zudem ist die Para­noia eine hin­ter­lis­ti­ge Schlan­ge. Ich habe mich immer gefragt, wer alles wuss­te, unter wel­chen Umstän­den ich hier war. Am Anfang dach­te ich, die ste­cken alle unter einer Decke. Und dann woll­te ich auch erho­be­nen Haup­tes aus der Num­mer raus­kom­men. Den Tep­pich fin­de ich nach wie vor sehr schön und ich wer­de ihn als Erin­ne­rung in jedem Fall auf­he­ben. Irgend­wann will ich noch­mal nach Kasch­mir zurück!

      Lie­be Grü­ße! Ole­an­der

  5. Avatar von Tanja

    Ach herr­je, ich fürch­te ich wäre vor Angst durch­ge­dreht. Was für eine ver­rück­te Rei­se­be­geg­nung und wie packend geschrie­ben. Man fühlt jeden Moment rich­tig mit. Was mich noch inter­es­sie­ren wür­de, falls du es ver­ra­ten möch­test: Was hat dich die­se Erfah­rung final gekos­tet?

    1. Avatar von Oleander Auffarth

      Hal­lo Tan­ja! Dan­ke für das Kom­pli­ment! Zum Durch­dre­hen hat nicht viel gefehlt, das konn­te ich mir in der Situa­ti­on aber gar nicht erlau­ben. Dann wären mei­ne »Brü­der« wohl erst rich­tig auf­ge­dreht. Doch die­ses Erleb­nis hat lan­ge nach­ge­wirkt. Mei­ne Rei­se durch Indi­en ist danach zu einem grenz­pa­ra­no­iden Wahn­sinn ver­kom­men; nur noch sel­ten kam ich kurz­zei­tig zur Ruhe.
      Mei­ne »Gast­ge­ber« durf­ten sich über etwa 700 Euro in 8 Tagen freu­en. Was mich am meis­ten geär­gert hat war, dass ich gleich­zei­tig für das Haus­boot und den Trip in die Ber­ge gezahlt habe; genau das ist das Kal­kül die­ser fei­nen »Geschäfts­män­ner«. Oben­drauf kam noch ein nicht ganz bil­li­ger Kasch­mir­tep­pich, der mich auf ewig an die­ses Aben­teu­er erin­nern wird. Lehr­geld wie man es kei­nem wünscht…
      Lie­be Grü­ße! Ole­an­der

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