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Argentinien, März 2014.
Zurück in Argentinien und fern meiner Heimat, beschließe ich, wieder mehr zu fotografieren. Während der letzten Jahre – ich weiß nicht genau weshalb – habe ich fast komplett damit aufgehört. Der Tapetenwechsel, den meine Reise mit sich bringt, soll mich motivieren, diese jahrelange Leidenschaft nicht ganz aufzugeben.
Ich schlendere durch die Straßen dieser Stadt, die mir irgendwie so vertraut vorkommen und gleichzeitig unglaublich fremd erscheint. Ich lasse mich einfach treiben, achte nicht sonderlich darauf, wo ich mich befinde. Biege einfach nach links ab, wenn mir gerade danach ist. Oder gehe geradeaus weiter, folge meinem Bauchgefühl.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite erblicke ich eine alte Frau. Sie sitzt auf einem kleinen Mauervorsprung, hält eine Zeitung in der Hand. Schön sieht sie irgendwie aus. Ich habe das Bild schon im Kopf, das ich von dieser Dame machen würde. Doch in meinem Inneren hadere ich damit, sie zu fragen, ob ich sie fotografieren dürfte. Ich habe höchsten Respekt vor der Intimsphäre anderer Menschen und manchmal kommt es mir so vor, als würde ich durch das Abdrücken des Auslösers meiner Kamera ungefragt in diese eindringen. Ich gehe weiter. Doch in meinem Kopf ist dieser Zwispalt und irgendwann denke ich mir: »Jetzt oder nie« und überquere die Straße, nähere mich der Frau.
Als sie mich bemerkt, lächelt sie mich an. Aus ihren alten Augen strahlt das kleine Mädchen, das sie einmal war. Ich frage sie unsicher, ob ich ein Foto von ihr machen dürfte. Warum, will sie wissen. Weil ich sie schön fände, antworte ich. Und da gibt mir die alte Frau doch tatsächlich die Erlaubnis, sie zu fotografieren! Ich mache das Bild und setze mich dann neben sie, um mich ein bisschen mit ihr zu unterhalten. Ich will nicht einfach gehen, ohne zu wissen, wer diese Person ist. Sie erzählt mir, dass sie seit drei Jahren in Pension wäre, das Geld, das sie vom Staat bekommt, aber nicht zum Leben reichen würde. Darum sitze sie fast jeden Tag in dieser Straße. Manchmal kämen Menschen vorbei, die über ihre Situation Bescheid wüssten und ihr etwas Geld in die Hand drückten.
Was mir diese alte Frau erzählt, stimmt mich nachdenklich. Bevor ich gehe, halte ich ihr einen 10-Pesos-Schein hin. Etwas betreten sagt sie, dass sie mir das nicht deshalb erzählt hätte. Ich erwiedere, dass ich ihr das Geld für dieses Foto gebe, das sie mich machen hat lassen. Da huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. Dankbar nimmt sie den Geldschein. Dieses Mal notiere ich mir den Straßennamen. Und tatsächlich treffe ich sie in den darauffolgenden Tagen immer wieder dort an, am selben Platz, wartend.
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Wie schön die Situation mit Worten eingefangen ist! Genauso geht es mir auch, aus Respekt vor der Intimsphäre scheue ich mich, um Erlaubnis für ein Foto zu fragen. Aber mit Feingefühl und Empathie ist vieles möglich, wie man sieht.
Ich kann mich nur meinen Vorrednern anschließen: wirklich wunderbar geschrieben!
Auf Reisen überlege ich auch oft, Leute anzusprechen und sie nach einem Foto zu fragen, traue mich aber aus den gleichen Gründen, meistens nicht. Deine Depesche zeigt mir einmal mehr, dass ich einfach damit anfangen muss. 🙂
Sehr schön geschrieben!
Ein stimmungsvolles Bild in Worten – ich habe das Gefühl, die Frau auf der anderen Seite sehen zu können. Mehr davon, bitte!
Eine schöne Depesche.
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