Vom Zug fahren in Indien und meiner Latrinenphobie

Mich von Mum­bai zu ver­ab­schie­den, das war gar nicht so leicht. Ich hat­te mich in die Stadt genau­so schnell ver­liebt wie in das gesam­te Land. Zwar war ich wie jeder ande­re Tou­rist wohl auch über­mannt von dem Cha­os, dem Dreck und den Far­ben Indi­ens, aber trotz­dem oder viel­leicht genau des­we­gen war ich voll­kom­men ruhig und ent­spannt. Ich saug­te alles in mir auf und lies mei­ne Ein­drü­cke in Form von Glücks­ge­füh­len wie­der frei.

Mum­bai ist eine im Ver­hält­nis zum Rest Indi­ens sehr west­li­che Stadt. Hier wer­den die Bol­ly­wood-Strei­fen gedreht, hier gibt es eine Müll­ab­fuhr, hier fin­det man Cof­fee-Shops mit Pan­ca­ke-Aus­wahl. Das braucht man zwar alles nicht unbe­dingt, wenn man das rei­ne Indi­en ken­nen­ler­nen möch­te, ist aber trotz­dem char­mant. In Mum­bai habe ich – im Gegen­satz zur wun­der­ba­ren Mei­ke Win­ne­muth – ein­fach mal durch­ge­at­met. Und mich in den Schat­ten spen­den­den Alleen aus­ge­ruht.

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Trotz­dem hieß es vor­erst Abschied neh­men, denn der Zug stand um 23 Uhr bereit auf sei­nem Gleis Rich­tung Goa. Ich hat­te schon in Deutsch­land aus einer ver­rück­ten Idee her­aus beschlos­sen, in der drit­ten Klas­se des Zuges nach Goa zu rei­sen.

War­um drit­te Klas­se, wenn man auch die Ers­te haben kann? Weil ich so vie­le Hor­ror­ge­schich­ten über die nied­rigs­te Klas­se gehört hat­te, dass ich mich unbe­dingt selbst davon über­zeu­gen woll­te. Da Indi­en mei­ne ers­te gro­ße Rei­se war, woll­te ich ein­fach alles mit­neh­men. Lei­der bin ich mit der Inter­net­sei­te der indi­an rail­way von Deutsch­land aus über­haupt nicht zurecht­ge­kom­men, also bat ich einen Mann aus Delhi, den ich spä­ter dort traf, mir zwei Tickets zu buchen. Ich ent­spann­te mich, dach­te mir noch groß­spu­rig so macht man das und nahm vor Ort die Tickets für mei­nen Freund und mich dan­kend ent­ge­gen. Der größ­te Anfän­ger­feh­ler, den man hät­te machen kön­nen…

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Das indi­sche Buchungs­sys­tem für Züge ist sehr kom­plex – aus dem fast schon char­man­ten, aber nicht nach­voll­zieh­ba­ren Grund her­aus, dass die Inder es lie­ben, kom­pli­zier­te Büro­kra­tie zu betrei­ben. Und – die­ser Grund ist ver­ständ­li­cher – weil das gan­ze Volk per Zug reist. Die­se Mas­sen müs­sen erst mal trans­por­tiert wer­den. Und genau des­we­gen wur­de beschlos­sen, ein Ticket ein­zu­füh­ren, das einem War­te­lis­ten­platz gleicht. Am Tag der Abfahrt geht also die indi­sche Fami­lie mit Sack und Pack an das Gleis und liest auf einer Lis­te, ob sie dabei ist oder nicht. Wenn nicht, kann man nach Hau­se gehen (macht kei­ner) oder steigt trotz­dem ein (macht jeder). Ohne Platz zu rei­sen heißt, auf dem Boden zu lie­gen oder sit­zen. Das wird vom Schaff­ner zwar nicht ger­ne gese­hen, jedoch tole­riert.

Aber zurück zu mir und mei­nem bril­lan­ten Plan, der sich als däm­lich her­aus­stell­te: Wir waren durch die Buchung des Ein­hei­mi­schen geparkt auf der War­te­lis­te anschei­nend hat­te der sich näm­lich ziem­lich viel Zeit gelas­sen. Außer­dem hat­te er dar­auf ver­zich­tet, uns das zu kom­mu­ni­zie­ren. Letzt­end­lich war es ein rie­si­ges Glück, als zwei von weni­gen Plät­zen noch nach­rü­cken zu dür­fen und dadurch zwei Schlaf­lie­gen ergat­tern zu kön­nen.

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In der drit­ten Klas­se ange­kom­men, zog ich mich nach oben auf mei­ne Lie­ge und beob­ach­te­te still das Trei­ben unter mir. Das Zug­ab­teil glich in sei­ner Art und Wei­se einem typisch indi­schen Mikro­kos­mos: Her­um­ren­nen­de Kin­der, Erwach­se­ne, die ihre Plät­ze such­ten, alte und ver­wirr­te Men­schen, Chai-Ver­käu­fer, die in mono­to­nen chai-chai-chai-Rufen das hei­ße Getränk im Minu­ten­takt anbo­ten. Es war ein ein­zi­ges Gewu­sel und ich frag­te mich, wie ich da schla­fen soll­te. Nach­dem ich mei­ne in ver­schie­de­nen Braun­tö­nen dre­cki­ge Lie­ge mit einem Des­in­fek­ti­ons­spray abge­wa­schen hat­te und ver­blüfft bemerk­te, dass die­se ja blau war, roll­te ich mei­nen Schlaf­sack dar­auf aus. Ich leg­te mei­nen klei­nen Ruck­sack mit den Wert­sa­chen in den Schlaf­sack zu mei­nen Füßen und ver­schloss ihn mit einem klei­nen Vor­hän­ge­schloss. Dann zog ich den Reis­ver­schluss des Schlaf­sacks bis zu mei­nem Kinn zu, setz­te mei­ne Schlaf­bril­le auf und steck­te mir Ohro­pax in die Ohren. Und befass­te mich mit mei­nem größ­ten Pro­blem beim Rei­sen: den öffent­li­chen Toi­let­ten. Im Fall von Indi­en: Gene­rell allen Toi­let­ten.

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Das Land hat­te mich mit sei­nem Dreck auf den Stra­ßen und in den Tem­peln, der Kaker­la­ke im Zim­mer und Haa­ren im Essen nicht in die Knie gezwun­gen. Ich war vor­be­rei­tet und gewapp­net gewe­sen. Aber die­se eine Sache, die­se Sache mit den öffent­li­chen Toi­let­ten macht mich ein­fach wahn­sin­nig. Wahn­sin­nig vor Angst, pin­keln zu müs­sen. Erst kommt der Gestank, der die unver­meid­ba­re Wahr­heit pro­phe­zeit. Dann kommt die Tat­sa­che, indem man durch halb geschlos­se­ne Augen schielt und um sich blickt. Und dann kommt die eigent­li­che Akti­on, gefolgt von einer unaus­weich­li­chen Akzep­tanz der Latri­nen­si­tua­ti­on.

Der Vor­teil mei­ner Atti­tü­de: Nie­mand kann so lan­ge einen Gang zum Klo aus­sit­zen wie ich, die Prin­zes­sin mit Panik­at­ta­cke. Somit war mei­ne eigens auf­ge­bür­de­te Her­aus­for­de­rung für die Nacht ent­stan­den: Ich wür­de nicht zur Latri­ne gehen. 12 Stun­den sei­en ja wohl mach­bar. Also trank ich nichts mehr und aß noch ein paar Voll­korn­kek­se. Ich mach­te die Augen zu und wach­te am frü­hen Mor­gen wie­der auf.

Alles tat weh. Auch mei­ne Bla­se. Nach­dem die Fahr­gäs­te um mich her­um lang­sam wach wur­den, bekam ich mit, dass wir nor­mal-indi­sche drei Stun­den Ver­spä­tung hat­ten. Ich glau­be, ich wur­de in dem Moment lei­chen­blass.

Es war eine Mischung aus Faul­heit, Dumm­heit und purer Angst, die dazu führ­te, wei­ter­hin das Klo zu mei­den. Ent­ge­gen mei­ner Gedan­ken, denn die kreis­ten wie Aas­gei­er um das Loch im Boden. Also lenk­te ich mich ab mit wei­te­ren Kek­sen und dem Zusam­men­räu­men mei­ner Sachen. Gefühl­te hun­dert Stun­den spä­ter fuhr der Zug in den Bahn­hof von Mar­gao ein. Mei­ne zusam­men­ge­knif­fe­nen Bei­ne schlepp­ten mich hin­aus, dort such­te ich mit irrem Blick eine Toi­let­te, fand sie, öff­ne­te die Tür – und dach­te mir, dass ich doch ver­dammt noch mal lie­ber im Zug gegan­gen wäre.

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Für die Rück­fahrt nach Mum­bai zwei Wochen spä­ter hat­te ich Plät­ze in der zwei­ten Klas­se gebucht. Sie war kaum sau­be­rer und Unge­zie­fer gab es in rau­en Men­gen. Auch eine klei­ne Maus, der ich schnell eine gute Fahrt wünsch­te, bevor sie im ande­ren Zug­teil Platz nahm.

Wäh­rend die­sem Rück­weg sprang ich über mei­nen Schat­ten. Ich ging auf die Zug­toi­let­te und stell­te ernüch­tert fest, dass sie nicht dre­cki­ger war, als die der Deut­schen Bahn.

Wie ich es lie­be, mich auf Rei­sen über­ra­schen zu las­sen.

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Antworten

  1. Avatar von peter

    Tol­ler, atmo­sphä­ri­scher Bericht! Da war ich gefühlt gleich wie­der in der indi­schen Bahn unter­wegs, was ich immer sehr geliebt habe. Unter
    reise-ansichten.de/bus-oder-bahnfahren-in-indien/
    habe ich aktu­el­le Tips (2016) zum Bahn­fah­ren in Indi­en zusam­men­ge­stellt.
    Gute Rei­se und vie­le schö­ne Erleb­nis­se wün­sche ich Dir und allen Rei­sen­den!
    Peter

  2. Avatar von Markus

    Wie prak­tisch, ich las­se mich gera­de von indi­scher Volks­mu­sik bedu­deln, da passt dein Arti­kel per­fekt 😉 Und mei­ne Fest­stel­lung: die Über­ra­schung ist immer der schöns­te Kick unter­wegs, wäre sonst doch irgend­wie lang­wei­lig…

    grü­ße Mar­kus

  3. Avatar von Ercan

    Hal­lo Anika , ich bin gera­de in einem Hotel in Delhi und wer­de ich mor­gen genau nach Mar­gao fah­ren. . Nach­dem ich de in Bericht gele­sen habe , habe ich jetzt auf­ge­hört zu essen:) ich wer­de zwei Tage im Zug sit­zen, schla­fen . Du hast mir schon ein biss­chen mit WC Angst gemacht 🙂 ich bin gespannt , wer­de ich dir noch­mals schrei­ben wenn ich in Mar­gao ankom­me und noch über­le­be:) dan­ke aber hast du schön geschrie­ben. Ich mach­te gera­de mein Raja­sthan Trip fer­tig,. Mit vie­le Ein­drü­cke will ich nach Goa zu ent­span­nen dann nach Bom­bay ‚danach zurück in die Schweiz..Grüsse

  4. Avatar von Nina

    Über­ra­schun­gen gibt es zum Glück immer! Manch­mal posi­tiv (wie bei dir), manch­mal nega­tiv (wie bei unse­rer Boots­fahrt in Laos, wo wir dach­ten es gäbe auf der fünf­stün­di­gen Boots­fahrt sicher einen Pipi-Stopp… aber ne, gab´s nicht) 😉

  5. Avatar von Alex

    Muti­ge Rei­se! Das Gefühl, wenn es drückt, ken­ne ich nur zu gut.

    Grü­ße

    Alex – geschrie­ben mit licht

  6. Avatar von Sally Field via Facebook
    Sally Field via Facebook

    Sehr kurz­wei­lig geschrie­ben.

  7. Avatar von Alex

    Ähn­li­ches muss­te ich vor Kur­zem auch in Viet­nam fest­stel­len… 😉

    LG

    Alex

  8. Avatar von Holger
    Holger

    Schö­ner Erleb­nis­be­richt, ger­ne mehr davon. Falls ich dem­nächst mal nach Indi­en fah­ren soll­te, dann bin ich ja men­tal schon drauf vor­be­rei­tet. 🙂

    Wel­che Unter­schie­de, abge­se­hen von der War­te­lis­te, gibt es eigent­lich bei der indi­schen Bahn? Wie wirkt sich das im Preis aus?

    1. Avatar von Anika

      Hal­lo Hol­ger,

      dan­ke dir!

      Das wirkt sich schon ein biss­chen auf den Preis aus, aller­dings habe ich es nicht mehr rich­tig im Kopf. Ich weiß nur noch, dass die drit­te Klas­se sogar für indi­sche Ver­hält­nis­se hin­ter­her­ge­schmis­sen wird. Ich glau­be, die ein­fa­che Rück­fahrt in der zwei­ten Klas­se AC waren um die 20 Euro (ca. 15 Stun­den)

    2. Avatar von Skraal

      Sehr schön erzählt!
      Das Gefühl ken­ne ich auch, aller­dings aus einem Slee­per-Bus, wo es kei­ne Toi­let­te gab und die Fah­rer sich in ihrer Kabi­ne ein­ge­schlos­sen hat­ten und laut Musik hör­ten, so daß sie mein ver­zwei­fel­tes Klop­fen nicht hör­ten. Es ist sehr schwer im schwan­ken­den Bus im Lie­gen in eine Was­ser­fla­sche zu pin­keln …

      Die Indi­sche Bahn unter­schei­det gene­rell zwi­schen Slee­per und Seat, also Schlaf­platz, wie Anika einen hat­te, und einem Sitz­platz; zwi­schen Air Con­di­tio­ned und Non-AC, und anhand der Anzahl der Lie­gen in einem Abteil: 2‑tier (zwei Lie­gen pro Wand, vier pro Abteil) und 3‑tier (drei pro Wand, sechs pro Abteil).
      Tat­säch­lich besteht die Drit­te Klas­se aus Holz­bän­ken, ohne Platz­re­ser­vie­rung mit dem ent­spre­chen­den Gedrän­ge und ohne viel Lie­ge­mög­lich­keit und ist in der Tat sehr bil­lig.
      AC kos­tet deut­lich mehr als non-AC. Ein Bei­spiel: Delhi nach Guwa­ha­ti (Assam) kos­tet im 3‑tier 2nd Class (non-AC) Slee­per 494 Rupees (~5,50 €), dau­ert 46 Stun­den und über­win­det 1942 km.

  9. Avatar von der Muger

    vie­len Dank für den wun­der­schö­nen Bericht.
    Indi­en ist halt ein­fach über­wäl­ti­gend…

    lie­be Grüs­se vom Muger

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