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Unter all den Städten Kolumbiens ist Cali eine der Eigenwilligsten. Sie präsentiert sich dem Reisenden nicht gerade auf dem Silbertablett. Die Arbeiterstadt im Süden Kolumbiens wirkt zunächst rau und unnahbar. Landwirtschaft und Industrie prägen die Region.
Zwei Millionen Menschen schlagen sich täglich durch ihre Straßen, laufen von einem Termin zum nächsten. In den Häuserschluchten hetzen sie von ihrem Zuhause zur Arbeit und zurück. Dazwischen stehen wir. Es ist heiß. Auch in den Stunden der Dämmerung ist die Hitze noch enorm. Unsere Rucksäcke wiegen schwer auf den Schultern.
Verschwitzt kämpfen wir uns durch die Straßen der Stadt. Vorbei an leicht bekleideten Menschen, auf deren Gesichtern ein dünner Schweißfilm glänzt. Aus großen Boxen wummert uns an jeder Ecke ein neuer Salsabeat entgegen. Musik, die in dieser hitzigen Atmosphäre geboren zu sein scheint.
Im Mio, Calis Transportsystem, drängen sich die Menschen eng aneinander und unser Einsteigen in den Bus wird nicht von allen Mitfahrenden wohlwollend aufgenommen. Zu groß ist unser Gepäck und zu klein das Platzangebot. Etwa zwei Stunden fahren wir durch die Stadt. Bankgebäude ziehen an uns vorbei, Einkaufszentren, Straßenmärkte, Wohnviertel. Erst nach Einbruch der Dunkelheit steigen wir aus. Wir befinden uns mittlerweile weit außerhalb des Stadtzentrums.
Zusammen mit Juan Carlos, unserem Gastgeber in Cali, laufen wir durch die Straßen seiner Nachbarschaft. Wir sind in einem sogenannten Barrio Popular gelandet – einem populären Viertel. Enge Gassen, unverputzte Häuser und scheinbarer Wildbau prägen das Bild. Alle Gebäude wirken eher willkürlich zusammengewürfelt als geplant. Manchen Häusern fehlen ganze Wände, Fensterscheiben gibt es kaum, Eisenstangen ragen aus dem Beton.
Ein paar Jugendliche kommen uns entgegen. Sie tragen Shorts und Muskelshirts. Mit lässig wiegendem Schritt ziehen sie an uns vorbei, nicht jedoch ohne von Juan Carlos per Handschlag gegrüßt zu werden. Genauso wie die Frau am Imbissstand, die Kinder auf dem Bordstein, der Motorradtaxifahrer – Juan Carlos kennt sie alle, grüßt jeden, hält hier und da einen kleinen Plausch. Wir sind in seinem Block.
Kolumbiens Sozial- und Gesellschaftsordnung ist seit 1994 in sechs Klassen gegliedert. Sie reichen von Klasse 1, der ärmsten Gesellschaftsschicht bis hinauf zur Klasse 6, der reichen Oberschicht. Knapp 90 Prozent der Kolumbianer leben in den ersten drei sozialökonomischen Klassen. Diese Einteilung bringt mancherlei Vorteile. So betragen die Kosten für Elektrizität, Internet, Wasser und Bildung in den unteren Klassen nur einen Bruchteil dessen, was die Oberschicht zahlen muss. Andererseits entstehen schnell soziale Vorurteile: Sag‹ mir, wo du wohnst und ich sage dir, wer du bist.
Juan Carlos‹ Nachbarschaft ist als Klasse 2 kategorisiert. Die nächsten Tage wohnen wir also in einer der unteren, wenn auch nicht der untersten Gesellschaftsschicht Kolumbiens. Zusammen mit seinen Eltern, zwei Geschwistern, Großeltern und einer Tante lebt er auf zwei Stockwerken. Dazu gesellen sich ein Hund, drei Katzen und wir. Unser Empfang ist herzlich, wenn auch etwas übermütig. Irgendwie scheinen alle betrunken zu sein und auch wir bekommen unser erstes Bier bereits auf der Türschwelle angeboten. Es ist Freitagabend. Das Wochenende hat begonnen.
Unsere Couch ist ein Bett im Zelt auf der Terrasse im ersten Stock. Gemütlich und geräumig. Daneben klafft ein riesiges Loch hinunter in den Innenhof. Ein paar Blumenkästen dienen als Absicherung. Unter einem Wellblechdach befindet sich die Küche. Ein Campingtisch und drei Maischefässer sind improvisierte Ablageflächen. Die Wände im Wohnzimmer sind unverputzt, die Fenster ohne Glas und die nach unten führende Betontreppe ohne Geländer. Zimmertüren gibt es nicht. Stattdessen verdecken Vorhänge die Eingänge.
Doch viel Zeit bleibt nicht, um uns umzusehen. Wir gehen aus. Im Zentrum, in der Avenida 6, reihen sich Restaurants, Bars und Clubs eng aneinander. Hier treffen wir uns mit weiteren Couchsurfern, Gringos und Einheimischen und entern eines der vielen Tanzlokale. Nicht ohne jedoch vorher vom Sicherheitspersonal nach Waffen abgesucht zu werden.
Kolumbien lebt für Salsa und nicht wenige sehen in der Musik die Seele Lateinamerikas. Egal, ob aus Freude oder aus Schmerz, überall im Land tanzen die Menschen und Cali, die raue Arbeiterstadt, ist das Zentrum der Musik und des Tanzes. Die Schritte sind ausgefallener, der Tanzstil schneller, intensiver und wesentlich körperbetonter als anderswo. Eine Herausforderung – zumindest für meine steifen Hüften.
Die Stimmung ist ausgelassen, der Aguardiente, Kolumbiens Nationalgetränk, fließt in Strömen und jede Menge Salsa dröhnt aus den Boxen. Wir tanzen bis nach ein paar Stunden Unruhe in unsere Gruppe kommt. Innerhalb weniger Augenblicke beschließt Juan Carlos den Aufbruch und verspricht uns einen, wie er sagt, „richtigen“ Salsaclub.
Eine halbe Stunde später muss ich meine Augen an grelles Licht gewöhnen. Sind die Tanzflächen der Welt meist spärlich beleuchtet, so strahlt das Parkett in dem Salsaclub, den wir gerade betreten, als wäre es helllichter Tag. Juan Carlos scheint zufrieden und verschwindet zwischen den unzähligen tanzenden Paaren.
Salsa muss gesehen werden und braucht jede Menge Licht. Wie sollten sonst auch all die herumwirbelnden Körper zu bewundern sein. Nur mühsam begreife ich, dass wir nicht nur zum Beobachten hier sind. Etwas mulmig bewege ich mich auf die Tanzfläche zu. Mir wird schlagartig bewusst, dass meine in Popayán erworbenen Salsafähigkeiten hier nicht ausreichen werden. Salsa tanzen in Cali – vielleicht mein bisher größtes Abenteuer.
Bis zum Morgengrauen erleben wir das Tanzspektakel, dessen Hauptstarsteller die hart arbeitende Bevölkerung Calis selbst ist. Doch damit nicht genug. Nur wenige Stunden später – die meisten davon verbringen wir schlafend – stehen wir mit Juan Carlos‹ Mutter in einer schier endlosen Schlange. Es ist das Finale des „Festival Mundial de Salsa de Cali“, der jährlich stattfindenden Salsa-Weltmeisterschaften.
In sieben Tagen streiten mehr als 4.000 Tänzer und Musiker um die zu vergebenden Titel. Die besten der Welt, heißt es, seien in der ›Hauptstadt der Salsa‹ dabei. Tatsächlich sind am Finaltag nur noch eine Salsaschule aus Ecuador und zwei aus dem kolumbianischen Medellín vertreten. Die restlichen Finalteilnehmer stammen allesamt aus Cali.
Doch das ist umso besser für die Stimmung im Stadion. Wie beim Fußball hat jede Salsaschule ihre Fanlager mitgebracht. Mit bunten Fahnen winken sie von den Rängen und feuern lautstark ihre Schule an. Auch wir sind mit Emotionen dabei, denn Juan Carlos‹ jüngerer Bruder Jaime tanzt im Finale.
In fünf Kategorien mit jeweils sieben Teilnehmern wird getanzt. Sowohl als Paar, als auch in der Gruppe. Meine liebste Kategorie ist der ›Baile Caleño‹ – der ›Tanzstil Cali‹. In atemberaubender Geschwindigkeit fliegen die Tänzer über die Bühne. Ihre Füße bewegen sich so schnell, dass das Publikum in schreiendes Gejohle ausbricht. Begeisterungsstürme brechen über die Tänzer herein, vor denen sie sich artig verbeugen.
Doch auch die Gruppenvorführungen sind schwindelerregend und suchen ihres Gleichen. Da werden Frauen in glitzernden Kostümen meterweit in die Luft geschleudert und menschliche Pyramiden gebaut. Was dort auf der Bühne geschieht ist kein Tanz mehr, es ist eine Performance. Mehr als sieben Stunden harren wir aus. Auch plötzlich einbrechender Regen kann uns nicht von unseren Plätzen vertreiben. Am Ende werden wir belohnt. Jaimes Salsaschule aus dem Barrio Popular, in dem wir leben, siegt in drei der fünf Kategorien und darf sich zumindest bis zum nächsten Jahr mit den Titeln des Weltmeisters schmücken.
Die Salsa-Weltmeisterschaften in Cali sind eine der größten nationalen Veranstaltungen. Landesweit werden die Tänze übertragen und unzählige Begeisterte fiebern vor den Fernsehgeräten in ganz Kolumbien mit. Als wir zurück nach hause kommen, sitzen Juan Carlos und der Rest seiner Familie, die uns nicht zum Finale begleitet haben, vor dem Fernseher. Es läuft die Nachberichterstattung. Noch immer werden Zeitlupenaufnahmen der Tänze gezeigt, noch immer spricht der Moderator mit Begeisterung über das Finale.
Auch bei uns im Wohnzimmer herrscht eine aufgeregte Diskussion über die vorgeführten Tänze. Die Stammtischgespräche über Abseits und nicht gegebene Tore im Fußball könnten kaum heftiger ausfallen.
Nach so viel Salsa wollen wir am nächsten Tag etwas mehr von der Stadt kennenlernen und machen uns erneut auf ins Zentrum Calis. Wir schlendern vorbei an mehreren kolonialen Kirchen, über die zentrale Plaza de Caycedo bis zum Teatro Municipal, dem Stadttheater. Dann folgen wir dem Flusslauf des Rio Cali, der die Stadt in der Mitte teilt. An seinen Ufern laden Bänke zum Verweilen ein. Auf dem Boulevard sind ein paar Skater unterwegs.
Inmitten eines langgezogenen Parks steht Calis bekannteste Symbolfigur: der Kater vom Fluss. Der kleine Faulpelz sitzt dort gemütlich in der Sonne. Zufrieden lächelt die Skulptur des kolumbianischen Künstlers Hernando Tejada vor sich hin und das nicht ohne Grund. Der pelzige Junggeselle ist heiß begehrt. Im Park stellen ihm nicht weniger als 15 Katzen nach.
Jede von einem nationalen Künstler gestaltet, stellt einen anderen kolumbianischen Frauentypen dar. Da ist zum Beispiel die Intellektuelle, die Diva, die Leidenschaftliche oder die Kokette. Die Miezen wollen den Kater verführen, doch egal wie sie es versuchen, der Bursche bleibt standhaft.
Vom Fluss steigen wir hinauf ins historische Viertel San Antonio. Hier ist vom geschäftigen Cali kaum noch etwas zu spüren. Kopfsteinpflaster zieren die Straßen. Niedrige, schattige Kolonialbauten säumen die Gassen. Oben auf dem Hügel, vor der Kirche San Antonio, treffen sich Einheimische und Touristen. Sie sonnen sich um Gras und genießen die Aussicht auf die Stadt. Am Abend werden Biere herumgereicht, hier und da riecht es nach Marihuana.
Kolumbiens bekanntestes Exportgut, das Kokain, ist hier nicht zu finden. Doch hängt Calis Geschichte eng mit dem Handel des Rauschgifts zusammen. Bis in die 90er Jahre hinein war das Cali-Kartell einer der bedeutendsten Drogenlieferanten. Es kontrollierte 80 Prozent der Kokainexporte in die USA. Neben dem Drogenhandel gehörten auch Geldwäsche, Bestechung und Gewalt zum täglichen Leben, bevor das Kartell Mitte der 90er Jahre zerschlagen werden konnte.
Heute regeln kleinere, nicht miteinander vernetzte Gruppen den Drogenhandel in und um Cali. Vielleicht einer der Gründe, warum die Stadt keinen besonders sicheren Ruf genießt.
Doch wozu auch? Die Stadt genügt sich selbst, ist lebendig, geschäftig – auch wenn sie an ein paar Stellen etwas abgewetzt und schmutzig erscheint.
Wir treffen ausgesprochen viele Ausländer, die hier in Cali leben. Es sollte nur ein kleiner Besuch werden, doch wurde es die große Leidenschaft, für eine raue Stadt, die berüchtigt ist für ihre wilden Partynächte. Cali sei keine Stadt für einen kurzen Bummel, sagen sie uns. Dem kleinen Besucher öffnet sie sich nicht gerne. Cali sei eine Stadt zum Leben. Denn dann liebe sie einen.
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Jede Ecke kommt mir bekannt vor. Beim Anblick blutet mir das Herz und alle meine Sehsuechte spielen in meinem Kopf verrueckt. Ich habe 5 Jahre dort gelebt. Cali ist keine Stadt, es ist ein Lebensgefuehl. Das beste, was ich je kennengelernt habe. Sicherlich eine gefaehrliche Stadt, aber nur wenn man sich dumm verhaelt. Die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Menschen dort sucht seines Gleichen. Leider habe ich den Fehler gemacht nach Deutschland zurueckzukehren. Wir verwoehnten Leute koennen viel dort lernen. Wie man zum Beispiel gluecklich ist ohne dickes Auto, Riesenhaus und Geld auf der Bank. Man lebt fuer den Moment.
Cali pachanguero!Michael, du hast vollkommen Recht. Cali ist ein Lebensgefuehl. Die Stadt ist keine Liebe auf den ersten Blick, aber wer Cali erlebt, kann sich nur schwer wieder trennen.
Oh, ich bin gespannt auf diese Stadt! Cali steht ganz oben auf meiner Liste der zu besuchenden Orte, weil ich dort einen guten Freund habe und jetzt nach eurem Text habe ich noch mehr Lust darauf 🙂
Eine völlig berechtigte Vorfreude! Viel Spaß in Cali!
ein sehr schöner Beitrag
Danke, liebe Shahrzad!
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