Migräne, Akklimatisation und Kikeriki im Bauch – von Namche Bazaar nach Khumjung

3. Etap­pe: Nam­che Bazaar – Khum­jung – Nam­che Bazaar • Wan­de­rung bis auf 3900 Meter • Distanz: ca. 6 Kilo­me­ter  • Geh­zeit: ca. 4 Stun­den • Beson­der­hei­ten: Tag der Unpäss­lich­kei­ten und tol­ler Blick auf die Ama Dablam

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Was ein Wet­ter: Nur eine win­zi­ge Wol­ke hängt am höchs­ten Berg der Welt. Um einen Blick dar­auf zu erha­schen, bricht mor­gens eine Stam­pe­de von Trek­king-Tou­ris­ten von Nam­che-Bazaar aus auf

Blass und schlapp sitzt Susan­ne am Früh­stücks­tisch, ein Schat­ten ihrer selbst. Sie klagt über Kopf‑, Nacken- und Magen­schmer­zen, sie lei­det unter Durch­fall und Appe­tit­lo­sig­keit. Die Höhe setzt ihr zu, die Anstren­gung, das schar­fe Essen. Sol­che Situa­tio­nen sind ein gefun­de­nes Fres­sen für die Migrä­ne. Und es ist klar: Susan­ne wird heu­te kaum das Zim­mer ver­las­sen kön­nen. Sie wird in einem abge­dun­kel­ten Raum lie­gen, schla­fen, zur Toi­let­te sprin­ten, Tee trin­ken, ein Medi­ka­ment neh­men – und hof­fen, dass sie es bei sich behält.

Und ich? Krank­hei­ten sind die Kil­ler-Appli­ka­tio­nen einer jeden Rei­se. Für Paa­re gilt das in beson­de­rem Maße. Wie soll sich der ande­re ver­hal­ten? Soli­da­ri­tät zei­gen und am Bett wachen? Oder darf er hin­aus an den Ort, den man eigent­lich gemein­sam erle­ben woll­te? Bei schwer­wie­gen­den Krank­hei­ten stellt sich die Fra­ge sicher nicht. Doch die Migrä­ne ist ein gars­ti­ges Biest. Als Außen­ste­hen­der kann man nicht viel tun. Anfangs ein wenig Nähe geben. Die plötz­lich stört. Schon nach weni­gen Momen­ten will Susan­ne vor allem Ruhe. Sie wen­det sich ab, die Augen geschlos­sen. Doch wenn ich jetzt gehe, wird sich die Ein­sam­keit für sie bald schreck­lich anfüh­len. Ein ein­fa­ches Hotel­zim­mer im Hima­la­ya, die Vor­hän­ge sind fle­ckig, auf den Bal­ko­nen lässt das Zim­mer­mäd­chen die frisch gewa­sche­nen Hand­tü­cher trock­nen. Kin­der lachen. Yaks muhen.

Wir sind im Hima­la­ya. Seit ich ein Kind bin, woll­te ich in die­se Regi­on rei­sen, es ist für mich ein Sehn­suchts­ort. Der heu­ti­ge Tag war für die Akkli­ma­tis­a­ti­on vor­ge­se­hen. Susan­ne und ich woll­ten eine Höhen­wan­de­rung bis hin­auf auf fast 4000 Meter machen, wir woll­ten uns mit der Sher­pa-Kul­tur befas­sen, und wir woll­ten uns die­ses ver­rück­te Nam­che-Bazaar anse­hen. Für einen Moment kom­me ich mir wie ein Ver­rä­ter vor als ich beschlie­ße, mit unse­rem Gui­de Som allein los zu gehen. Und es macht mir die Ent­schei­dung nicht leich­ter, dass die Geschich­te des Alpi­nis­mus auch eine Geschich­te des Ego­is­mus ist: Hat nicht Rein­hold Mess­ner am Nan­ga Par­bat sei­nen Bru­der zurück gelas­sen, ist nicht Ger­lin­de Kal­ten­brun­ner ohne ihren Mann auf den K2 gerannt, schick­te Speed­klet­te­rer Bene­dikt Böhm nicht kurz unter­halb des Manas­lu-Gip­fels sei­ne Beglei­ter ins Base­camp und stürm­te allein wei­ter? Matt sagt Susan­ne: „Geh nur.“

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Der Hei­li­ge Gip­fel und die Magie der Luft-Fahrt: Die mehr als 6800 Meter hohe Ama Dablam ist den Sher­pa hei­lig. Unse­ren Gui­de Som fas­zi­niert der Heli­ko­pter des »Ever­est-View-Hotels«

Som und ich besu­chen erst das Sher­pa-Muse­um. Es ist bemer­kens­wert, wel­che Bedeu­tung die Fami­lie in der Gesell­schaft die­ses Berg­vol­kes hat. Spä­ter schnau­fen wir mit hun­der­ten von Trek­kern, ähem, sor­ry: Spä­ter schnau­fe ich mit hun­der­ten von Trek­kern (Som schnauft nicht) den ers­ten Anstieg hin­auf. Für einen Moment hal­te ich mich für einen Trot­tel, da habe ich die Enge und Betrieb­sam­keit der Metro­po­le ver­las­sen, beseelt auch von der Vor­stel­lung, in die­ser ent­le­ge­nen Welt so etwas wie Ruhe und Abge­schie­den­heit zu erle­ben. Und jetzt kämp­fe ich mich in einer viel­spra­chi­gen Tou­ris­ten­schar im Gän­se­marsch, manch­mal tap­sen sie in Zwei­er­rei­hen neben­ein­an­der her, einen win­dungs­rei­chen Pfad hin­auf.

Mal ner­ven ein paar dicke Ame­ri­ka­ner, die kaum vor­an kom­men, und ich über­ho­le sie, indem ich nah am Abhang an ihnen vor­bei sprin­ge. Mal kann ich es nicht fas­sen, dass mit­ten im Auf­stieg eine Ita­lie­ne­rin ihr Mobil­te­le­fon her­aus holt und mit irgend­je­man­dem daheim par­liert, und ich remp­le sie etwas hef­ti­ger an als ihr Im-Weg-Ste­hen eigent­lich erfor­der­lich macht. Was wer­den die ande­ren wohl von mir den­ken? Wer­den sie mich für so einen typisch-beklopp­ten, gars­tig-ener­gi­schen Deut­schen hal­ten? Lang­sam ent­span­ne ich mich, kann durch bun­te Gewu­sel die Schön­heit der Land­schaft erken­nen. Und doch fra­ge ich mich: Suchen wir hier tat­säch­lich alle das­sel­be? Som eilt schwei­gend und leicht­fü­ßig hin­ter mir her.

Wir errei­chen eine Hoch­ebe­ne. Hier oben löst sich die Klet­ter­ge­mein­schaft schnell auf. Som und ich fol­gen einem schma­len Pan­ora­ma­weg mit enor­men Weit- und Tief­bli­cken in die kras­se, aber erstaun­lich grü­ne Berg­welt des Hima­la­yas. Tier­pfa­de malen ein rot­brau­nes Lini­en­mus­ter in die von Büschen und nied­ri­gen Bäu­men über­zo­ge­nen Hän­ge. Schließ­lich errei­chen wir das auf  3880 Metern gele­ge­ne „Ever­est View Hotel“. Neben dem Haus, auf einer Anhö­he, liegt der Aus­sichts­punkt, den ich errei­chen woll­te. Von hier hat man einen phan­tas­ti­schen Blick auf Ama Dablam und Mount Ever­est. Vor dem Haus steht ein Heli­ko­pter auf der Wie­se. Wer sich das 4‑S­ter­ne-Hotel in den Ber­gen leis­ten kann (die Zim­mer­prei­se begin­nen bei 200 US-Dol­lar pro Nacht), der reist gern bequem an. Und wäh­rend Som beim Heli­port dar­auf war­tet, dass die ele­gant aus­se­hen­de, rot-gelb-schwar­ze Maschi­ne abhebt, lie­ge ich ein paar Meter ober­halb im Gras, den Blick abwech­selnd auf den hei­li­gen Berg der Sher­pas und den höchs­ten Berg der Welt gerich­tet. Die Son­ne scheint, ein Vogel pickt die Krü­mel eines Ener­gie-Rie­gels auf, in der Luft liegt der Duft der Wachol­der­zwei­ge. Ich neh­me das Fern­glas, kann aber auf den berühm­ten Gip­feln nie­man­den ent­de­cken.

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Kin­der­gar­ten und Yak-Kacke: Auf dem Weg nach Khun­de tref­fen wir die­se Kin­der-Grup­pe, die die Son­ne genießt, in der die Yak-Fla­den an den Mau­ern trock­nen. Hier wird mit dem Dung geheizt

Nach einer län­ge­ren Rast, wan­dern Som und ich durch die Dör­fer Khum­jung und Khun­de nach Nam­che-Bazaar zurück. Wir gehen durch Sher­pa-Land. Stein­wäl­le gren­zen die Fel­der ein, die Häu­ser aus unbe­haue­nem Fels sind flach, ihre Dächer tür­kis­grün. Die Men­schen sam­meln Yak-Dung, den sie in Fla­den zum Tro­cken aus­le­gen oder an Mau­ern kle­ben, damit hei­zen sie ihre Öfen. Sie ver­gra­ben Kar­tof­feln in der Erde, es ist ihr Win­ter­vor­rat. Sie ver­kau­fen Tand, »Made in Tibet«, an die Wan­de­rer. Und sie sit­zen in ihren bun­ten Klei­dern auf den Wie­sen, spie­len mit ihren Kin­dern, genie­ßen die Son­ne. Das Lie­be­vol­le, die Wär­me sol­cher Momen­te steht im kras­sen Gegen­satz zu uns High­tech-Trek­kern, die wir in unse­ren Plas­tik-Mem­bran-Rüs­tun­gen durch die spät­som­mer­li­che Berg­welt schrei­ten (sobald die Tem­pe­ra­tu­ren am Abend fal­len, freu­en wir uns über den Schutz).

Wir besu­chen das Klos­ter von Khum­jung. Hier wird angeb­lich der legen­dä­re Yeti-Skalp auf­be­wahrt. Ein hut­ze­li­ges Männ­lein will mir einen Blick dar­auf ver­kau­fen. Doch ich win­ke ab. Das ist es nicht, was mich an die­sem Ort inter­es­siert. Dafür beein­druckt mich ein jun­ger Nepa­li in Dau­nen­wes­te und Oak­ley-Bril­le, der sich mehr­fach am Schrein des bud­dhis­ti­schen Tem­pels ver­beugt und eine ordent­li­che Spen­de in die Dona­ti­on-Box wirft. Das Khum­bu-Tal zählt unter den ent­le­ge­nen Regio­nen die­ser Welt sicher­lich zu den reichs­ten. Mount Ever­est sei Dank.

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Glau­be und Busi­ness: Im bud­dhis­ti­schen Klos­ter von Khum­jung kann man – gegen eine Spen­de – den Yeti-Skalp besich­ti­gen. Die Men­schen sind fromm, Gebets­müh­len und Tsch­or­ten all­ge­gen­wär­tig  

Die Sher­pa sind die gro­ßen Pro­fi­teu­re des Hima­la­ya-Tou­ris­mus. Sie orga­ni­sie­ren Tou­ren, betrei­ben Hotels und sor­gen sogar dafür, dass irgend­wie jeder im Dorf davon etwas hat. Basis der Sher­pa-Gemein­schaft ist die Fami­lie. Die nächs­te Instanz ist das Dorf. Man hei­ra­tet und trau­ert mit­ein­an­der, berat­schlagt und fei­ert zusam­men. Die­se Gesell­schaft ist ein eige­ner Kos­mos. Die aller­dings auch einen kras­sen Wan­del durch­lebt, das Geld, das sie durch den Tou­ris­mus ein­neh­men, ver­än­dert die Men­schen. Einst leb­ten sie alle unter ein­fachs­ten Ver­hält­nis­sen. Jetzt gibt es auch hier Arm und Reich. Neid und Miss­gunst.

Spät­nach­mit­tags kom­men wir zurück nach Nam­che Bazaar. Susan­ne sieht erschöpft aus. Doch geht es ihr bereits bes­ser. Am Abend essen wir mit Som im Restau­rant. Susan­ne löf­felt vor­sich­tig eine Toma­ten­sup­pe mit Reis. Som und ich bekom­men Dal Bhat, das nepa­li­sche Natio­nal­ge­richt. Und das wer­den wir bereu­en. Schon in der Nacht sprin­te ich meh­re­re Male auf die Toi­let­te. Auch unser Gui­de, des­sen Sher­pa-Magen-Darm-Trakt eigent­lich alles ver­daut, selbst unter aben­teu­er­lichs­ten Bedin­gun­gen zube­rei­te­tes Essen, fühlt sich am nächs­ten Mor­gen nicht beson­ders. Auf mei­ne Fra­ge, was los sei, ant­wor­tet er mit einem gequäl­ten Lächeln: „Kike­ri­ki im Bauch.“ Es wird unser Mot­to für die nächs­ten bei­den Tage.

Nepal_Dorf_pushresetVom Glück der Fern­sicht: Momen­te, die jeden Wan­de­rer beflü­geln, der Blick auf das Tal bei Tas­hin­ga

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Antworten

  1. Avatar von Philipp Laage

    Das Ever­est-Gebiet als »Sehn­suchts­ort«, geht mir auch so. Beein­dru­cken­des Foto von der eben­so beein­dru­cken­den Lhot­se-Süd­wand übri­gens!

    1. Avatar von Susanne & Dirk

      Lie­ber Phil­ipp,
      und dann ist es lei­der so, wie es nicht sel­ten ist: Der Sehn­suchts­ort ent­puppt sich als sper­rig, man muss ihn sich erar­bei­ten, die eige­ne Erwar­tungs­hal­tung hin­ter­fra­gen und bereit sein, etwas ande­res zu fin­den als man eigent­lich gesucht hat. Und sei es, indem man sich für eine Stun­de ins Gras legt und auf die­se unge­heu­er­li­chen Fels­wän­de sieht.
      Herz­li­che Grü­ße
      Susanne&Dirk

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