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Nur die nackten Füße des Mannes sind zu sehen. Das übrige Inventar seines Körpers – verborgen. Wie von einem riesigen, gefräßigen Haifischmaul aus Stahl verschluckt. Der Bus, unter dem der Mann nun begraben ist, soll uns eigentlich an diesem frühen Morgen von Delhi nach Agra kutschieren: Die Schönheit des Taj Mahal will bewundert werden!
Um den Bus herum lauern etwa zehn Menschen und diskutieren ohne erkennbaren Sinn wild durcheinander. Wie sehr ich mir jetzt eine Sabine Christiansen wünsche, die sich heiter-moderierend einmischt, so wie sie es immer sonntagabends machte. Jeder hier hat seinen besten Ratschlag zu unterbreiten – diesen einen, der dem Bus hundertpro wieder Leben einhaucht.
Plötzlich: Das Fahrzeug scheint in der Luft zu schweben! Raunen wuchert durch das Publikum. Doch der verschwundene Mann hatte nur mal kräftig die Kurbel des kleinen Wagenhebers geschwungen, um einen der Reifen zu tauschen. Während sich die Menschen weiter im dichten Morgensmog von Delhi herumdrücken, schickt die Sonne Licht, mit einer Überdosis hämmernder Wärme für den neuen Tag.
Der schwebende Bus sinkt wieder auf die Erde. Ende routinierter Arbeit, nur kurz nach Sonnenaufgang. Nun ist Schluß mit träumen. Zeit für Wundersames, Komik und Schrecken.
Leichte Startschwierigkeiten der Sorte „vernachläßigbar“ überwunden, rollt der Bus nun dahin. Drinnen begrüßen uns die strahlend weißen Zähne von Amir zu einem ausgesprochen exquisiten Abenteuer.
Der hochaufgeschossene Mann ist schlank, hat akkurat zur Seite gekämmte, schwarze Haare und vier Finger an der linken Hand. Es ist der kleine Finger der fehlt. An seinem Zeigefinger thront ein dicker, goldener Siegelring. Ich kann mich nicht erinnern, je davon gehört zu haben, dass jemand seinen Finger freiwillig geopfert hätte.
Da Amir größer ist, als der Innenraum des Busses hoch, wird Amir den gesamten Tag über mit geradem Oberkörper, in einer nach vorne gebückten Haltung stehen, so, als wolle man beim Bratwurstverzehr nicht riskieren, daß Senf auf das frische Hemd rinnt.
Amir erklärt gleich zu Beginn ein paar Spielregeln. Ich bin nicht sicher und blinzel daher zur Sicherheit feste mit beiden Augen, meine aber, eine Blume hinter Amirs Ohr eingesteckt, und in bunte Sari gewandete, tanzende Frauen im Hintergrund, zu sehen.
Einen langen Tag hätten wir vor uns, verkündet Amir, viel Zeit bliebe uns aber nicht. Auf Google Maps fährt man in zwei Stunden und neununddreißig Minuten von Delhi nach Aggra. Die indidsche Verkehrspraxis sieht anders aus. Die heitere Fahrt entpuppt sich als sechsstündige Irrfahrt. In eine Richtung versteht sich.
Amirs Regeln sind denkbar einfach: Wir könnten hin und wieder Bilder knipsen. Müsse aber zügig gehen, warnt uns Amir, und setzt uns unter Druck: „Just quickly!“ Amir fordert uns weiter auf, unsere Geldbörsen bei ihm zu deponieren. So habe er immer dann, wenn Eintritts- und Trinkgelder gefordert würden, Bares auf Lager. Er kümmere sich um alles sehr gut: „Just quickly! I come around, have your wallet ready now. Pleeease!” Ich vergrabe meine Hände tief in den Hosentaschen.
Dann beginnt Amir zu singen. Hinter ihm wird weiter getanzt. Kreisende und schwingende Arme ranken um Amir herum, als wollten sie ihn zur Teilnahme an etwas aus der Kategorie „Sünde – Schlecht fürs Karma!“ anstiften. Um das bei Herrn Karma geführte Konto nicht voreilig zu überziehen, fordert Amir vorsichtshalber alle Reisenden auf, mitzutanzen und in den Gesang einzustimmen. Man kann alles glauben, es muss nur unwahrscheinlich genug sein, hörte ich einmal. Amirs bestimmte Aufforderung zum Tanz läßt mich an meine Einreisebefragung in Israel denken. Es fehlen eigentlich nur noch die Mariachis und die Party wäre komplett.
Ein Mikrofon macht die Runde, wie Rauchwerk, das bei uns auch mit Ausweis nicht am Automaten zu haben wäre. »Just quickly!« Amir singt vor: „Ich bin Amir und fahre nach Aggra, und wer bist Du?“ In dem Moment, als er „Du“ sagt, schauen mich seine großen, leuchtenden und irren Augen an. Doch noch bevor ich etwas stottern kann, grabscht meine Sitznachbarin, Monica, nach dem Mikrofon.“Hey, I am Monica, this is sooo cool, you know, I am from California, and now I am going to Aggra to see the Taj Mahal. I am soooo excited! Does that make sense? Hahahahahahuhuhuhuhuhahahaha.…,“ dröhnt es noch verzerrt aus dem Buslautsprecher.
Monica steht auf und guckt erwartungsvoll in die Runde. Die bedankt sich mit respektvoller Stille. Dann brandet ihr eigener Applaus auf. Der Spielleiter Amir ist außer sich, schüttelt sich einmal kräftig und stimmt mit ein. Ich wähne mich irgendwo zwischen Partywagen der Deutschen Bahn und einer Statistenrolle in einem Bollywood-Movie.
Amir reicht das Mikrofon weiter. Rama sei Dank, direkt an meinen anderen Nachbarn, da ich mich gerade vornüber beuge, um die Schnürsenkel meiner Flipflops zu richten. Nachdem alle mal durften, fahren wir weiter. Angenommener grober Kurs: Taj Mahal.
Nicht viel später halten wir. Zeit für ein Frühstück. »Just quickly…!« Wie sonst? Amir klatscht in die Hände, so, als wäre es der Startschuß zum olympischen 100-Meter Finale mit Weltrekordversuch. Die Reisegruppe hastet an das Frühstücks-Buffet. Indisches Brot, eine Art Haferschleim und Kaffee.
„Just quickly!“, mahnt Amir schon wieder mit erhobener Stimme von hinten. Genug geruht. „Please come now! Quickly!“ Hundert Prozent des Hosentaschenvolumens wird mit den Frühstücks-Köstlichkeiten gefüllt. Make-Sense-Monica zwingt noch schnell, gemeinsam mit dem Inhalt einer Tasse Kaffee, die letzten Bisse hinunter und schleppt sich schmatzend mit dicken Backen zurück zum Bus. »Does that make sense?«
Dann: Endlich auf der Straße! Der Autobahn. Dem Highway. Endlich? Nein, wie man es auch dreht und wendet, diese Begriffe erwecken beim Leser eine falsche Vorstellung. Das Transportwesen in Indien rollt über Asphaltfragmente, um deren temporären Besitz so hart gekämpft wird, wie um eine gute Wurfposition bei einem NBA-Basketball Finalspiel. Dabei sieht alles so fließend, harmonisch, natürlich aus. Verkehrs-Ballett, könnte man meinen.
Regel Nummer Eins: Hupen. Den ganzen Tag. Wer das Haus verläßt, hupt. Die Hupe ist der indische Blinker, nur lauter. Bei einem ersten Blick auf den Asphalt, ließ die Breite der Fahrbahn noch auf eine friedliche Koexistenz von vielleicht zwei nebeneinander fahrenden Fahrzeugen hoffen.
Wir scheren aus, auf die rechte Spur, um dort einen Überholvorgang per Hupsignal zu initiieren. Ich schaue rechts aus dem Fenster und sehe, daß uns dort ein Motorradfahrer überholt und direkt auf Höhe der Stoßstange wieder einschert. Dort verweilt das zum Bersten vollbepackte Zweirad natürlich nicht. Sein Betreiber hat eine Schlupfmöglichkeit entdeckt, gerade links an dem ebenfalls in einem Überholmanöver befindlichen Laster vorbei.
Ich blicke nach links, wo ein weiterer Lastwagen zum Überholsprung ansetzt. Wir weichen nach rechts aus und verdrängen dort einen Rickschafahrer, der durch seinen Rechtsschlenker einen Fahrrdfahrer in das Gebüsch zwingt. Dieses Muster wiederholt sich sechs Stunden lang auf der Straße von Delhi nach Aggra. Anfahren, Abbremsen, und ausweichen, einfädeln, durchschlüpfen und heranrutschen, vorbeirutschen, rangieren und querschießen.
Trotz allem, späte Ankunft vor dem Tor des Taj Mahal. Lange Schlangen erwarten uns. »Just quickly!« meint Amir. Inder und Touristen warten in getrennten Reihen. Auf der indischen Seite wiederum, sind Männer und Frauen getrennt aufgestellt. Dann Bewegung und als wir endlich an den Kassen-Schalter herantreten, fällt in diesem Moment der Rolladen mit einem „Rrrratsch“ herunter: Heute kein Einlass mehr!
Amir dreht sich zu uns um und zeigt uns seine weißen Zähne, als hätte der Regisseur der Zahnpasta-Werbung gerade „Action!“ gerufen. Er wedelt mit Ansichtskarten vom Taj Mahal, so, als sei nichts gewesen und so, wie der Weihnachtsmann es täte, wenn er endlich mit dem Geschenk aufkreuzt, auf das man sein ganzes Leben warten musste. Amir verteilt die Karten. »Just quickly! Für die Daheimgebliebenen“, wie er zwinkernd unterstreicht. Wir kehren geknickt zum Bus zurück, unter dem schon der Mann mit den nackten Füßen liegt.
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