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Es ist tatsächlich das Gefühl, in den schöneren, weil ursprünglichen, unverdorbenen, idyllischen Teil Deutschlands zu fahren, wenn man mit dem ICE von Norden nach München unterwegs ist. Vielleicht hat das schon mit dem Klima zu tun oder mit der urtümlichen Münchner Art, aber da gehen die Meinungen ja weit auseinander.
München jedenfalls, so viel steht fest, funktioniert immer wieder gut als Fluchtpunkt, wenn der alle zwei Monate einsetzende Berlin-Koller allzu arg auf das Gemüt schlägt. Die Stadt ist für den Reisenden natürlich auch einfach das Nadelöhr zu den Ostalpen. Deshalb nur umsteigen in München und weiter in den Süden.
Das Wetter ist direkt gut: Schäfchenwolken über Pasing, das Gebirge liegt nicht mehr fern.
Wenn man dann aus dem Zugfenster nach links auf den Starnberger See schaut, auf die Badegäste, die Boote, die Villen, dann hat man das Gefühl, dass es mit der Wohlstandsinsel Deutschland ewig so weitergehen könnte wie bisher, dass die Welt eben doch noch in Ordnung ist.
Von Garmisch-Partenkirchen aus fährt der Zug nach Ehrwald, in das 2500-Seelen-Dorf in Tirol direkt unterhalb der Zugspitze. In dem Ort ist alles auf den Tourismus ausgerichtet.
Laute Motorengeräusche auf der Hauptstraße: Es ist das lustige Phänomen, dass der minderwertig getunte Kleinwagen gerade in den brutalen Kaffs ein derart wichtiges Statussymbol für die heranwachsende Jugend darstellt, aber wo einmal am Tag der Bus fährt, da geht es ohne Auto eben nicht. So wird aus der Not eine Tugend: Wo du nichts hast, da hast du immer noch deine Karre zum Rumprollen. In den Großstädten käme ja kaum ein junger Mensch auf die Idee, sich ein Auto anzuschaffen.
Ingeborg, die Besitzerin des Haus Ingeborg, steht an ihrem Gartenzaun. Sie hat das mit der Zimmerreservierung leider nicht hinbekommen, aber Gott hab’ die alte Frau selig, ein Ersatz ist schnell gefunden, obwohl so viele Läufer in der Stadt sind.
Die Abendsonne fällt schräg durch die Wolken in das weit ausgeschnittene Tal, es ist jetzt Zeit für ein Wiener Schnitzel und einen Apfelstrudel am Marktplatz.
Am nächsten Morgen wird vorerst Schluss sein mit dem leichten Leben, mit dem verträumten Dahinreisen durch die Republik und dem Schlemmen in heimeligen Gasthöfen. Was dann gefordert ist, steht im genauen Gegensatz zum Sich-Gehen-Lassen – es ist bedingungsloser Wille.
Das Vorhaben: der Zugspitz-Extremberglauf, knapp 18 Kilometer weit, 2235 Höhenmeter auf den höchsten Berg Deutschlands.
Am Sonntag um 8 Uhr stehen sie überall herum oder laufen sich warm, die Berglauf-Champions in ihren Funktionsshirts, mit ihren Trinkrucksäcken und aerodynamischen Sonnenbrillen. Dazwischen immer wieder diese Tiroler Urgesteine: Männer, die nicht mehr jung sind, aber deren blendender Gesundheitszustand sich gut an der faserigen Beinmuskulatur ablesen lässt.
Jeder versucht jetzt, irgendwie das tolle Gefühl vor dem Start einzusaugen.
Es ist ja schwer geworden, sich diesem Diktat der Erlebniseffizienz zu entziehen, das heute überall verkündet wird: Genieß jeden Moment! Mach das Beste aus allem! Nutze deine Zeit optimal! Die Suche auf dem Mp3-Player nach einem Lied, das eventuell genau zu der Stimmung hier passen könnte, gelingt nicht.
Die Sonne ist schon sehr warm an diesem Morgen, dann wird der Countdown heruntergezählt, es geht los.
Es sind eher primitiv-affektive Fragen, die man angesichts der brutalen Steigung auf den ersten Kilometern des Zugspitzlaufs gleichsam der Strecke, dem Berg als Ganzen und sich selbst stellt: Sag mal, hackt’s? Geht’s doch? Willst du mich verarschen?
Als Läufer ohne Jahrzehnte der Erfahrung erscheinen plötzlich nur noch zwei Optionen realistisch: ersticken oder übergeben. Der angsteinflößende Gedanke: Dieses Tempo bei dieser Steigung lässt sich unmöglich noch sehr viel länger durchhalten. Worauf habe ich mich hier eingelassen?
Zum Glück folgt die Route am Anfang einer asphaltierten Straße, die Füße können sich in unterbewusster Monotonie vorwärts schieben, bis der Körper realisiert hat, dass er in den kommenden drei Stunden gefälligst bis an den Grenzen seiner Belastbarkeit zu arbeiten hat.
Die Halsschlagader fühlt sich an, als explodierte sie gleich.
Ein Vorteil hat die noch vergleichsweise üppige Vegetation: Die Nadelbäume schirmen den Läufer gegen die Sonne ab. Als der erste Verpflegungsstand kommt, reißt der Wald auf. Almwiesen wohin das Auge blickt, die Steigung flacht sich ab, es geht manchmal sogar nahezu eben über natürlichen Boden geradeaus. Der Kreislauf kommt ein bisschen runter. Dann geht es links den Hang hinauf, in weit ausscherenden Serpentinen, über Wege, auf denen auch noch ein Geländewagen fahren könnte. Schließlich folgt die Route einem steinigen Pfad hinauf zum Joch, das die Läufer vom Reintal trennt.
Es ist das erste Mal, dass alle aufhören zu laufen und zügig marschieren, weil der Weg einfach zu steil ist.
Adrenalinschub auf der nächsten Etappe, messerscharfe Konzentration: Die Füße scheinen über die Steine zu fliegen, sie nur für Millisekunden zu berühren. Es geht jetzt eine Weile bergab in den Talkessel, der Pfad ist schmal, ein echter hochalpiner Wanderweg, von Steinen durchsetzt, von losem Geröll bedeckt.
Das extrem schnelle Laufen in diesem Gelände macht großen Spaß, es ist ein leichtes Vergnügen.
Gleichzeitig täuscht der Energieschub über die nicht zu vernachlässigende Erschöpfung hinweg, die bereits in den Beinmuskeln steckt und die spätestens ab der Knorrhütte äußerst unangenehm in Erscheinung tritt. Auf den letzten Kilometern nämlich geht es nur noch bergauf.
Wenn man seinen ersten Marathon gelaufen ist, dann glaubt man ja immer, ein solcher Lauf sei in erster Linie ein ernster, finsterer Kampf gegen sich selbst, aber das ist eine verengte Sichtweise.
Es braucht immer beides im Leben, das konzentrierte und ernsthafte Streben, das Überwindung kostet, und die vergnügliche und humorvolle Leichtigkeit, die sich selbst nicht zu ernst nimmt. Wenn man sich gleichmäßig zwischen beiden Polen bewegt, kann man als Mensch wachsen, ohne zu verkrampfen, und das Leben genießen, ohne hinter seinen Möglichkeiten zurückzubleiben.
Das hat auf den elenden Schuttwegen hinauf zur letzten Versorgungsstation, der Sonnalpin-Alm, einen seltsamen Effekt: Man quält sich wirklich wie ein Hund, die Atmung geht schnell, das Herz hämmert gegen die Brust, die Beinmuskeln übersäuern. Aber es ist trotzdem ein purer Genuss, etwas absolut Schönes und Erbauendes, das im Übrigen noch lange nachwirkt: Mit der Zeit werden die Beine kräftiger und die Füße geschickter, der Puls verlangsamt sich.
Es wird aber, so gesehen, natürlich trotzdem eine Art Kampfmarsch auf den Gipfel der Zugspitze. Die Steigung ist so groß, dass Laufen kaum noch möglich ist. Der Weg gleicht einer Geröllhalde: Je energischer man die Füße nach oben drückt, umso mehr Steine tritt man los, auf denen man gleich wieder zurückrutscht. Nur wenn der Pfad auf einem kurzen Stück wieder ebener wird, ist es möglich, noch einmal zu laufen, um etwas Zeit zu gewinnen.
Auf den Schneefeldern bieten auch die Trail-Schuhe nur noch wenig Halt, die Hände greifen ins Weiß, das Eis reflektiert die Sonne, die durch die Wolken blendet.
Es wird wohl noch gewittern an diesem Tag.
Die letzten Höhenmeter auf den Gipfel der Zugspitze sind mit Drahtseilen versehen. Kurz vor dem Zieleinlauf geht es noch einmal wenige Schritte bergab. Der Versuch, diese letzten Meter laufend zu überwinden, scheitert erbärmlich: Sofort krampft die Wadenmuskulatur, also kurz auf einem Bein hüpfen.
Im Ziel dann der einfache Gedanke: Yes, geschafft!
Das Zugspitzplateau ist voll mit Touristen. Man hält es am ehesten in einem dicken Pulli und mit Weißbier in der Hand an der Brüstung der Aussichtsplattform aus. Von dort fällt der Blick auf die wolkenverhangenen Gebirgsketten der Ostalpen.
Was noch einmal deutlich wird dort oben auf dem höchsten Berg Deutschlands: Die ultimative Anstrengung, das An-die-Grenze-Gehen ist nicht mehr dieser hochstilisierte Ausnahmezustand, sondern wirkt auf angenehme Art und Weise zusammen mit dem Seichten, dem Leichten; beides geht Hand in Hand, die Zustände bedingen sich gegenseitig und heben sich dann auf.
Wer will sich jeden Tag drillen? Wer will jeden Tag faulenzen? Es geht darum, beides im Wechselspiel ausschöpfen zu können.
Denn was gibt es Schöneres, als aus purer Lust an der Herausforderung einen solchen Berglauf zu machen? Andersherum gefragt: Was gibt es Schöneres, als in der Nachmittagssonne von Ehrwald einen Apfelstrudel zu essen, wenn man zwei Stunden zuvor zwei Kilometer einen Berg hinauf gerannt ist?
Das eine gibt dem anderen einen umso größeren Wert.
Bei einem Spaziergang durch die goldenen, vom Wind zerzausten Felder rund um Ehrwald, in dem weiten Talkessel zwischen Wetterstein-Massiv, Grubigstein und Sonnenspitze, spult das Gehirn noch einmal alle Eindrücke des Laufs ab. Die Äste biegen sich im Wind, in einem kleinen Wald, der da mitten auf weiter Fläche steht, und der Bach fließt zwischen den Sträuchern am Wegrand entlang.
Abends dann gibt es gutes Essen in einem Gasthaus: Hirtenpizza, Käse, Wein, eine Karamellcreme.
Als es schon dunkel ist, kommt das Gewitter. Blitze zucken, und für einen Sekundenbruchteil zeichnet sich das abschreckende, nächtliche Bergmassiv der Zugspitze gestochen scharf gegen den Nachthimmel ab. Ein schwarzes, menschenfeindliches Ungetüm.
Der Regen prasselt auf das Geländer des Balkons in der kleinen Pension, sonst hört man nichts, nur den wiederkehrenden Donner im Tal.
Antworten
Servus Philipp,
erst einmal Respekt für deinen Lauf. Ein interessanter Artikel, nur eine winzige Kleinigkeit stört mich. Du schreibst, »wo du nichts hast, hast du immer noch deine Karre zum Rumprollen«.
Ich bin vor 10 Jahren von Hamburg nach Bayern gezogen und ja, genau das war auch mein erster Eindruck. Freitag- und Samstagabend wurden die Kisten rausgeholt und immer im Kreis um den Dorfplatz kutschiert.
Nach der nun doch schon etwas längeren Zeit die ich hier lebe, ist diese Phänomen kaum noch wahrnehmbar weil, »hier hast du so viel, das du gar keine Karre zu Rumprollen brauchst.« Das Problem dabei ist, viel passiert ohne »große Werbetrommel« und wird daher von den meisten Menschen nicht registriert. Solltest du also irgendwann noch einmal einen Urlaub in Oberbayern (unterhalb von München) machen, melde dich gerne. Vielleicht kann ich dich dann ja davon überzeugen das es hier noch andere Beschäftigungen in der Freizeit gibt 🙂Grüße aus dem Bayerischen Oberland,
Thorsten
Super Artikel und Glückwunsch zu deiner Leistung! Ich bin ab und zu im Vals Skigebiet durch die Berge unterwegs, aber da wähle ich eher die leichten Strecken 😉 Viel Erfolg weiterhin
Super Idee das mit der Zugspitze, und auf dem Weg aus dem hohen Norden nach Garmisch am besten ein Zwischenstopp in der bayerischen Landeshauptstadt, denn hier ist immer was los!
Wow, super Seite! Komm doch mal im schönen und kreativen Mecklenburg vorbei 🙂
War 2007 oben, tolles Erlebnis. Mochte ich nicht missen
Feiner Artikel! Gut be- und schön geschrieben. Das liest man einfach gerne und lädt zum Nachahmen ein! Gruß
Einfach ausprobieren, auf die Zeit kommt es am Ende nicht an.
Toll geschrieben und Glückwunsch zur Leistung !
not bad, wie man so schoen hier in bayern sagt… da ist der wallberglauf am tegernsee fuer dich vermutlich nur noch ein lockeres auslaufen… haha
Der ist bestimmt auch richtig schön! 🙂
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