69 Grad Nord: die Ahnen der Zukunft

Das Stra­ßen­schild ist von Schuss­lö­chern durch­siebt. Jemand hat mit wei­ßer Far­be die sami­sche Über­set­zung des Ortes über­malt. Im Zen­trum der nörd­li­chen Völ­ker in Mann­da­len, Nord­nor­we­gen, erin­nert das Schild, das im Ein­gangs­be­reich des Zen­trums hängt, an den jüngs­ten Vor­fall die­ser Art, von vor zwei Jah­ren.

Ges­tern Abend bin ich in Trom­sø, Nor­we­gen, gelan­det. Es ist Juli und nor­disch kalt. Das jähr­li­che Rid­du Rid­du Fes­ti­val fin­det in zwei Tagen statt. Rid­du Rid­du, das bedeu­tet klei­ner Sturm an der Küs­te. Es ist ein inter­na­tio­na­les indi­ge­nes Fes­ti­val mit dem Schwer­punkt Ark­tis und hoher Nor­den, wo Musik, Film, Kunst, Tanz, Lite­ra­tur, Work­shops und Pro­gram­me für Kin­der und Jugend­li­che ange­bo­ten wer­den.

Die Frage der Identität: wie alles begann

Ich sit­ze in einem klei­nen roten Golf und gucke in das Gesicht einer jun­gen Frau neben mir. Eine Sami. Wir fah­ren zum Fes­ti­val­ge­län­de für das ich mich als Frei­wil­li­ge gemel­det hat­te.

„Kennst du die Geschich­te von unse­rem Fes­ti­val? Wie alles begann?“, fragt sie mich.

„Nein“, gebe ich zu.

Sie erzählt mir von einer kal­ten Sil­ves­ter­nacht, damals im Jahr 1991. „Mei­ne Freun­de und ich, hat­ten uns zum Fei­ern ver­sam­melt. Irgend­wann kann das The­ma Iden­ti­tät zur Spra­che. Unse­re Grup­pe hat sami­sche Wur­zeln. Vie­le Samen, beson­ders die Gene­ra­ti­on unse­rer Eltern und Groß­el­tern, schä­men sich ihrer Her­kunft. Die Nor­we­ge­ni­sie­rung der Regie­rung hat tie­fe Spu­ren hin­ter­las­sen. Wir beschlos­sen, etwas zu ändern. Uns unse­re Tra­di­tio­nen zurück­zu­ho­len und unse­re Her­kunft mit Stolz zu tra­gen. Also ent­wi­ckel­ten wir die­sen Plan, das Fes­ti­val zu grün­den.“

Die Nor­we­ge­ni­sie­rung, beson­ders stark vor dem Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges, war eine Maß­nah­me der nor­we­gi­schen Regie­rung eine ein­heit­li­che Kul­tur in Nor­we­gen ein­zu­füh­ren. Die Samen besuch­ten nor­we­gi­sche Schu­len, spra­chen die nor­we­gi­sche Spra­che und nah­men den christ­li­chen Glau­ben an. Ihre eige­ne Kul­tur und Denk­wei­se wur­den von offi­zi­el­ler Stel­le als men­ta­ler Schwach­sinn ein­ge­stuft und ver­bo­ten.

Das Festivalgelände

Wir betre­ten das Zen­trum der nörd­li­chen Völ­ker wo ich Dani­el, einen Samen aus Mann­da­len, vor­ge­stellt wer­de. Er zeigt mir auch die Schuss­lö­cher in den Orts­schil­dern.

„War­um macht jemand so was?“, fra­ge ich.

„Es ist der Neid der nor­we­gi­schen Bevöl­ke­rung über eine bevor­zug­te Behand­lung der Samen. Es geht haupt­säch­lich um Land­be­sitz,“ erklärt er.

Im Zen­trum der nörd­li­chen Völ­ker ist eine gut aus­ge­stat­te­te Biblio­thek von und über indi­ge­ne Kul­tu­ren. Hier gibt es auch eine Kunst­aus­stel­lung und eine Cafe­te­ria. In der Biblio­thek fin­den zudem Podi­ums­dis­kus­sio­nen statt. Auf dem Fes­ti­val­ge­län­de steht ein Ver­samm­lungs­haus der kana­di­schen Urein­woh­ner. Mit tra­di­tio­nel­len Wand­ma­le­rei­en. Gleich dane­ben steht ein Goah­ti, ein Zelt der Samen, gebaut aus Holz und Torf­moos. Es gibt einen Kräu­ter­gar­ten, wo Work­shops ange­bo­ten wer­den. Dane­ben bau­en die indi­ge­nen Markt­ver­käu­fer ihre Waren auf. Ren­tier­pro­duk­te sind der Markt­füh­rer. Die Wie­se für die Kin­der und Jugend­li­chen wird tra­di­tio­nel­les Hand­werk und Spie­le bie­ten.

Feiern in der Arktis

In den nächs­ten zwei Tagen füllt sich das Gelän­de. Auf dem Zelt­platz tum­meln sich die Par­ty­wü­ti­gen und sit­zen an Lager­feu­ern, um neue und alte Bekann­te zu tref­fen. Die Mehr­heit trägt tra­di­tio­nel­les Sami Gewand. Der Alko­hol fließt in Strö­men, trotz der def­ti­gen Prei­se. Durch die Mit­ter­nachts­son­ne habe ich inzwi­schen kom­plett die Ori­en­tie­rung ver­lo­ren. Ich bin nicht müde. Es geht ein­fach wei­ter. Die paar Stun­den Schlaf, die ich mir müh­sam mit Augen­bin­de und Ohr­stöp­seln erkämp­fe, machen kei­nen gro­ßen Unter­schied. Der Som­mer in Nord­nor­we­gen elek­tri­siert.

Die Atmo­sphä­re des Fes­ti­vals ist durch­schwän­gert mit der Suche nach den Wur­zeln, altem Wis­sen und neu­en Wegen. Dabei wird nicht weh­lei­dig in der Ver­gan­gen­heit gesto­chert, es geht um Visio­nen, um Bil­dung und Selbst­be­wusst­sein. Auch das Fern­se­hen und die Pres­se begeis­tert die Men­ge an Künst­lern und Ideen, an Men­schen in tra­di­tio­nel­len Kos­tü­men die Folk­lo­re­tän­ze auf­füh­ren, Geschich­ten erzäh­len und alte Gesän­ge ver­mit­teln.

Big giant beasts with gree­dy mouths are here. Run to your sacred place, reinde­er of dia­mond. Run. Don’t let them find you. Mari Boi­ne

 

Große Biester und Diamanten

Die Podi­ums­dis­kus­si­on um das Arc­tic Rail­way Pro­ject inter­es­siert mich. Ich gehe hin. Geplant ist eine neue Zug­ver­bin­dung zwi­schen dem fin­ni­schen Rova­nie­mi und dem nor­we­gi­schen Kir­kenes. Der Kon­flikt der unter­schied­li­chen Inter­es­sens­part­ner scheint aus­weg­los. Die geplan­te Rou­te befin­det sich im Land der Samen. Die Samen wol­len wei­ter­hin Ren­tier­her­den durch den Nor­den füh­ren, ohne Strom­mas­ten, Fabri­ken, Minen und Zug­li­ni­en. Und die gro­ßen Unter­neh­men wol­len ihr Kapi­tal ein­set­zen, um Pro­fit zu schla­gen.

Petra Lai­tii, Vor­sit­zen­de der fin­ni­schen Sami Jugend, äußert ihre Sor­gen, um das Ende einer Kul­tur, den Unter­gang einer Ära. Sig­rid Ina Simon­sen, Bezirks­rat für Kul­tur und Indus­trie der Regi­on Troms, erklärt das wach­sen­de wirt­schaft­li­che Inter­es­se an der nörd­li­chen Regi­on.

„Die Welt will und braucht die Mine­ra­li­en, die Ener­gie und die Nah­rungs­mit­tel. Die Häfen sind bereits aus­ge­las­tet und die alter­na­ti­ven Rou­ten nötig.“

Sie blickt in die Run­de und fügt has­tig hin­zu:

„Aber die Pla­nung steht noch am Anfang und es ist nichts ent­schie­den. Die Aus­wir­kun­gen auf die Sami Gemein­de und die Ren­tie­re sind noch nicht unter­sucht wor­den.“

Ich kann mir den­ken, wie die­ses Pro­jekt wei­ter­geht. Unter­su­chung hin oder her. Mei­ne Schrit­te füh­ren mich zurück auf das Fes­ti­val­ge­län­de. Dort sehe ich eine Frau mitt­le­ren Alters, mit Ruß bemalt. Sie hat sich ein totes Tier mit toten Augen um die Hüf­ten gebun­den. Mit ihrem Hin­tern wackelt sie pro­vo­zie­rend vor dem Gesicht eines jun­gen Samens. Sie gibt bizar­re Lau­te von sich und hat sich etwas in den Mund gesteckt, dass ihr Gesicht defor­miert. Ihre Augen rol­len wild in den Augen­höh­len. Die Men­ge ist selt­sam berührt, die Situa­ti­on pro­vo­ziert lau­tes Geläch­ter. Zwei Lavu­us wei­ter dröhnt ser­bi­scher Kehl­ge­sang aus dem Inne­ren. Ich kann einen Blick erha­schen und sehe eine älte­re, asia­tisch aus­se­hen­de Frau, die die Zuhö­rer in unbe­kann­te Sphä­ren trägt.

Die Show: von Perspektiven und Kollaberationen

Am Abend tritt DJ Shub und Josh DePer­ry auf. DJ Shub ist ein Mohawk DJ, ehe­mals A Tri­be Cal­led Red und Stam­mes­mit­glied der Six Nati­ons of the Grand River, Kana­da. Der Sound ist elek­tro­nisch. Pow Wow Tech­no. Josh DePer­ry hat ein knall­bun­tes, tra­di­tio­nel­les Kos­tüm an und ist der Fire­star­ter (RIP Keith Flint) der Band. Er heizt das Publi­kum ein. Die Men­ge starrt begeis­tert die Per­for­mer an. Plötz­lich ruft Josh DePer­ry:

„Wir sind hier, um uns zu begeg­nen. Wir machen das anders! Formt einen Kreis!“

Die Men­ge for­miert sich kreis­för­mig. Josh DePer­ry fliegt förm­lich über den Platz. Ein­zel­ne Zuschau­er sprin­gen in die Mit­te des Krei­ses. Ihre Kör­per ver­for­men sich zu den Elek­tro­beats wie Gum­mi­bä­ren. Mit einem Mal dreht der DJ auf, die Men­ge hüpft, völ­lig auf­ge­heizt, hoch und run­ter. Jetzt fas­sen sich alle an den Hän­den und tan­zen im Kreis. In einer Spi­ra­le. Die Ener­gie ist bom­bas­tisch. Natür­lich, tri­bal. Der Per­spek­ti­ven­wech­sel vom kon­su­mie­ren­den Zuschau­er zum Teil einer Per­for­mance ist gran­di­os.

End­lich ent­de­cke ich das Par­ty­la­vuu. Fei­ern im Dun­keln. Die Cir­cum­po­lar Hip-Hop Col­la­be­ra­ti­on gibt ein Kon­zert! DJ Uya­rakq, aus Grön­land, spielt einen bass­las­ti­gen Sound. Hil­da Läns­man, eine fin­ni­sche Sami, Aku Matu, eine Inuk Per­for­mance Künst­le­rin und Ale­xia Gal­lo­way, eine Kehl­kopf­sän­ge­rin aus Kana­da begeis­tern mit ihrem unge­wöhn­li­chen Auf­tritt. Aku Matu strotzt vor Ener­gie und rappt, schreit und spuckt in das Mikro­fon. Sie erzählt wütend die Lebens­ge­schich­te ihrer Mut­ter, ein Inuk aus Alas­ka. Die Per­for­mance ist extrem ener­gie­ge­la­den.

Polar bear: Oh, whe­re did all the ice go? Aku Matu

Der offi­zi­el­le High­light des Fes­ti­vals ist der Auf­tritt der leben­den Sami-Legen­de Marie Boi­ne. Sie singt über die Unter­drü­ckung der Samen, die Geschich­te. Aber auch über Mut­ter Erde und die Wild­heit Finn­mark. Ihre Bot­schaft ist eine moti­vie­ren­de. Sie for­dert die Jugend auf, sich zu bil­den, das alte Wis­sen über die Wur­zeln aus­zu­gra­ben und in die Moder­ne zu über­set­zen. Dann kommt Isak auf die Büh­ne, ein Über­ra­schungs­gast. Isak, das ist Ella Marie Hæt­ta Isak­sen und eine jun­ge Sami-Sän­ge­rin, die im vor­he­ri­gen Jahr den Sami Grand Prix gewann. Wer gera­de noch in Trä­nen aus­ge­bro­chen ist, emp­fin­det jetzt Hoff­nung für die Zukunft der Sami­kul­tur. Ein älte­rer Herr im tra­di­tio­nel­len Gewand neben mir spie­gelt die Emo­tio­nen, die sich auf der Büh­ne abspie­len, per­fekt wider.

Abschied feiern: mit Wein, Weib und Gesang

Der nächs­te Abend gehört den Künst­lern, dem arbei­ten­den Volk, also auch den Frei­wil­li­gen. Es wer­den Mas­sen an köst­li­chen Gerich­ten auf­ge­tischt. Es gibt Wein und Bier. Spä­ter, in der hel­len Nacht, ver­sam­meln sich eini­ge der Gäs­te um das Lager­feu­er. Die tai­wa­ne­si­sche Grup­pe sorgt, wie immer, für gute Stim­mung. Sie wuch­ten Aku Matu, die auf einem Stuhl sitzt, hoch in die Luft. Sie feu­ern sie förm­lich ins Him­mel­reich und fan­gen sie kurz dar­auf wie­der auf. Drei­mal. Alle lachen aus­ge­las­sen. Am Lager­feu­er ver­sam­melt, beginnt einer der Tai­wa­ne­sen einen Beat anzu­schla­gen. Aku Matu setzt ein und rappt.

Die Stim­mung ist gut, sehr sogar. So gut, dass wir alle, Arm im Arm im Kreis ste­hen. Unter der Mit­ter­nachts­son­ne. In Nord­nor­we­gen. Ich ste­he zwi­schen Aku Matu und Dani­el. Dane­ben rei­hen sich Mao­ris und Mon­go­len. Bra­si­lia­ner und Deut­sche. Grön­län­der und Afri­ka­ner. Die Natio­nen und indi­ge­nen Kul­tu­ren, die die­ser Kreis wider­spie­gelt, ist der Wahn­sinn. Wir sum­men, sin­gen. Eine Wohl­fühl­wel­le durch­strömt den Kreis. Hoff­nung, Lie­be, Ver­söh­nung. Emo­ti­ons­ge­la­den gucken wir uns ein­an­der an. Als gäbe es kei­ne Ver­gan­gen­heit. Nur den Augen­blick und die Zukunft. Ich fra­ge Aku Matu:

„Wie bin ich eigent­lich hier­her­ge­kom­men? Womit habe ich das ver­dient? So ein Glück!“

Sie lacht mich an: „Ich weiß.“

Für einen Moment steht die Welt still.

Die Zeit auf dem Fes­ti­val ist wie eine emo­ti­ons­ge­la­de­ne Ach­ter­bahn­fahrt. Für alle. Ich habe noch nie so vie­le Men­schen wei­nen sehen. Vor Glück, vor Hoff­nung, vor Frus­tra­ti­on. Die Zusam­men­kunft der Völ­ker drückt ein tie­fes Bedürf­nis der Mensch­heit aus: die Hoff­nung auf Ver­söh­nung und eine gemein­sa­me Zukunft.

 

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Antworten

  1. Avatar von Mikel
    Mikel

    Glück­wunsch zu die­ser Erfah­rung, wer­de ver­su­chen die­ses Jahr , als Rent­ner, nun in Schwe­dens Natur lebend , die­se Erfah­rung zu tei­len. Habe 42 Län­der bereist, aber es gibt nur 2 die ich echt lie­be, Nord­skan­di­na­vi­en und Nami­bia. LG Mik­el

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