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Raul Enrique Isuiza Naro ist zufrieden.
Zwanzig Meter vom Boot entfernt tauchen Rückenflossen an der Wasseroberfläche auf, sie gehören Amazonasdelphinen. Raul lächelt triumphierend, die Tiere wollte er uns unbedingt zeigen.
Die Sonne fällt schräg durch die Wolken, es ist später Nachmittag, der Ort Nauta liegt eine Stunde hinter uns. Das Boot umfährt eine Sandbank, der Rio Marañón ist an dieser Stelle mehr als zweihundert Meter breit. Der Fluss schiebt sich langsam vorwärts, ein schwerfälliger Strom, zähflüssiges Braun, am Ufer wachsen die Bäume dicht und hoch.
Unser Ziel ist das Dorf 20 de Enero, noch eine Stunde werden wir unterwegs sein, hinein in das Naturschutzgebiet Pacaya-Samiria, in dem man zwanzig Tage den Fluss hinunter fahren kann und keinen Menschen zu Gesicht bekommt.
Nur vier Dörfer gibt es in dem Reservat, das so groß ist wie Hessen, aber diese Abmessung ist rein fiktiv, es gibt keine Grenzen, der Wald erstreckt sich im Norden bis nach Kolumbien, nach Westen bis zur Andenkordillere, nach Osten bis ins Zentrum des südamerikanischen Kontinents.
Das Boot gleitet über den Fluss, wir haben Wasser und Ausrüstung in Rucksäcken dabei, für uns gibt hier nichts zu jagen oder zu fangen. Man spürt sehr deutlich die Allgewalt der Tropen.
Die Augen folgen der Monotonie der Uferlinie, im Gepäck liegt Joseph Conrads Herz der Finsternis, der Reiseliteraturklassiker über eine Irrfahrt auf dem Kongofluss, an die Grenze der eigenen Psyche.
Unser Boot hat zwei Sitzbretter und ein niedriges Dach, es trägt uns weg von den Orten der Menschen, wir sind auf dem Weg in den Dschungel, den Regenwald, wir fahren hinein in die unermessliche Distanzlosigkeit des Amazonasbeckens.
Raul haben wir in der Tropenstadt Iquitos getroffen, die nur mit Flugzeug und Schiff zu erreichen ist. Beim Verlassen des Fliegers bläst der Wind auf der Gangway ins Gesicht wie ein heißer Fön, das Hemd am Rücken ist sofort durchgeschwitzt.
Raul gehört zur indigenen Bevölkerung Perus, eine gedrungene Gestalt mit breitem Grinsen, in manchen Momenten erinnert er an den aufgedunsenen Diego Maradona, bloß ohne Bart und lange Haare.
Iquitos liegt im peruanischen Amazonasdschungel, die Stadt ist abgeschnitten vom übrigen Teil des Landes.
Zusammen mit den Indigenen der Region drehte Werner Herzog hier 1982 den Film Fitzcarraldo, in der Hauptrolle der Exzentriker Klaus Kinski, der im Dschungel ein Opernhaus bauen wollte und während der Dreharbeiten immer wieder schreckliche Wutanfälle bekam. Die Ureinwohner baten dem Regisseur an, den offenbar verrückt gewordenen Kinski zu töten.
Der Urwald, so scheint es, führt den Menschen an den Rand des Wahnsinns, er treibt ihn in die totale Kapitulation.
Der Rio Marañón fließt nördlich von Nauta mit dem Rio Ucayali zum Amazonas zusammen, aber wir fahren in die entgegengesetzte Richtung, nach Südwesten, ins immergrüne Niemandsland.
Das Licht ist fast verschwunden, als wir den Kontrollposten am Ufer erreichen, an dem wir die Passierscheine für das Naturschutzgebiet bekommen. Das Holzhaus ist auf Stelzen gebaut, denn die Uferlinie hebt und senkt sich mit den Jahreszeiten.
In der Dunkelheit des frühen tropischen Abends erreichen wir 20 de Enero. Das Dorf besteht nur aus ein paar Holzhütten, die um eine grüne Freifläche am Ufer herum angelegt sind. Die Wiese ist einer der wenigen Orte, an denen nichts wächst, das sofort die Sicht nimmt. Es gibt kein Gästehaus, aber Raul sagt, wir könnten bei seinem Freund Tito übernachten, der unterwegs sei, eine Woche tiefer im Dschungel, um mit einem Speer in der Nacht Fische zu jagen; seine Hütte stehe frei.
Die Dorfbewohner scheinen kaum Notiz von uns zu nehmen. Sie tragen westliche Kleidung, es brennen ein paar Laternen. In einer größeren Hütte, die als Schule dient, steht ein Fernseher, Kinder haben sich um den Bildschirm versammelt, das Licht flackert in die Dunkelheit.
Titos Hütte hat keine Wände, in der Mitte steht ein Bett mit einem Moskitonetz, eine Matratze gibt es nicht. Ein weißes Laken liegt auf einem Holzbrett, im Halbdunkel können wir nicht erkennen, ob es sauber ist. In einer Ecke des Raums gluckert eine Henne in einem Pappkarton und brütet Eier aus.
Carlos, einer der Dorfbewohner, zeigt uns eine Pflanze vor unserer Hütte, auf deren Blättern drei Vogelspinnen unterschiedlicher Größe und zwei dünne Schlangen regungslos verharren. Die Spinnen mögen die Pflanzen besonders, erklärt Carlos. Unsere Herberge für die Nacht hat, wie gesagt, keine Wände, aber Raul sagt, die Tiere kämen nicht von sich aus herein, er warnt uns nur vor den Ameisen.
Ihr Biss mache 24 Stunden Fieber.
Wir liegen mit dem Rücken auf unserer Pritsche, nur in Unterhose, das Bett ist schmal, die Nacht schwül-warm. Die Haut klebt vom Schweiß, eine Dusche gibt es nicht an diesem Abend. Die Geräusche des Regenwalds liegen wie ein Tinnitus im Ohr. Gleich hinter der Hütte beginnt der Dschungel.
Liefe man von hier aus in den Wald hinein, stieße man auf den nächsten hundert Kilometern nur auf die allgegenwärtige grüne Vegetation der Wildnis, auf Schwüle, auf Hitze, es wäre ein Marsch in die komplette Orientierungslosigkeit.
Unser Schlafplatz liegt auf der Grenze zu einem Teil der Erde, in dem die Abwesenheit der Zivilisation so erdrückend ist, dass sie die eigene Existenz in Frage stellt.
Ein paar Schritte von unserem Bett entfernt beginnt das Nichts.
Am nächsten Morgen weckt uns Raul vor Morgengrauen, wir wollen mit dem Boot ein bisschen weiter in den Dschungel fahren und dann irgendwo an Land gehen und Wildtiere suchen. Wir stoßen auf eine flache Stelle am Ufer und legen an, Raul hält eine Machete in der rechten Hand und zerteilt, wenn nötig, die Lianen und Sträucher.
Raul bewegt sich fast geräuschlos über den Waldboden. Schien uns sein untersetzter Körperbau in Iquitos, in der Stadt, noch etwas Tollpatschiges an sich zu haben, erscheint er hier, im Urwald, als geradezu prädestiniert für die Fortbewegung.
Wir folgen einem zugewachsenen Wasserlauf hinein in den Wald. Raul kneift die Augen zusammen, er sucht Anakondas, die sich mit Vorliebe in flachen, stehenden Gewässern aufhalten. Aber wir haben kein Glück an diesem Morgen.
Immerhin: In den obersten Wipfeln eines mindestens fünfzig Meter hohen Tropenbaums sitzt ein Faultier. Wir können es nur erkennen, weil es sich für einen Moment bewegt.
Zurück in der Kommune machen uns zwei Dorfbewohner Frühstück: Coca-Tee, Toast, Marmelade und Mandarinen. Der Himmel ist grau und fast nuancenlos, die Luft feucht. Es beginnt zu regnen. Trotzdem wollen wir noch einmal zu Fuß einen Ausflug in den Dschungel unternehmen.
Hinter dem Dorf führt ein kleiner Pfad in den Wald hinein, der Verlauf des Wegs ist anfangs noch gut zu erkennen. Oben in den Bäumen springen Affen von Ast zu Ast. Carlos und Raul gehen voraus, beide tragen Macheten. Alle hundert Meter hat jemand ein dünnes rosafarbenes Bändchen an eine Pflanze geknotet, zur Orientierung. Wir laufen eine halbe Stunde, eine ganze Stunde, der Pfad ist jetzt sehr schmal und inmitten der Vegetation kaum sichtbar. Sträucher und Blätter streifen unsere Knie und Oberschenkel, unser Becken.
Carlos und Raul finden die Spuren eines Tapirs auf dem feuchten Waldboden und sogar die Spuren eines Jaguars. »Ein besonders großes Tier«, sagt Raul. Man sehe das an der Größe und Tiefe des Tatzenabdrucks in der Erde. Es regnet ohne Unterlass. Wir haben vergessen, die rosa Bändchen zu zählen, wir sind nun zwei Stunden unterwegs und scheinen uns immer in die gleiche Richtung zu bewegen, weg vom Dorf. Unsere Hosenbeine sind komplett durchnässt. Der Regen wäscht die feuchte Erde in den beigen Stoff.
Als wir schließlich fragen, wohin der Pfad führe und ob es sich um einen Rundweg handele, sagt Raul, dass er das auch nicht genau wisse, er gehe diesen Weg zum ersten Mal entlang.
Carlos findet wieder einen Tatzenabdruck des Jaguars. »Ungefähr 24 Stunden alt«, sagt Raul.
Wir haben vollkommen die Orientierung verloren.
Führte uns jemand auch nur fünfzig Meter vom Pfad weg und drehte uns dreimal mit verbundenen Augen im Kreis – wir fänden niemals wieder das Dorf. Irgendwann würde es Nacht werden, wir hätten kein Zelt, keine Ausrüstung, wir kämen nicht einmal einen Kilometer in der Stunde voran in irgendeine Richtung, so dicht wächst der Wald überall.
Carlos und Raul wollen noch weiter gehen. Wir müssen uns eingestehen, dass von der Erkundung dieser Wildnis ein schwer zu erklärender Reiz ausgeht.
Es zieht einen immer tiefer in den Dschungel, eine Stunde, einen Tagesmarsch, eine Woche, als ob die Erkenntnisse dort noch weitreichender sein könnten, als ob sich irgendwann unter einer Baumwurzel am entlegensten Punkt des Walds ein elementares Geheimnis finden ließe, das die metaphysischen Rätsel des menschlichen Daseins auflöst, die »ersten Gründe« der Existenz, den letzten Sinn der Wirklichkeit, das Verhältnis zwischen Geist und Körper, die Frage nach einem Gott.
Aber natürlich ist dort nichts, nur der Tod.
Nach zweieinhalb Stunden drehen wir um und laufen zurück in Richtung Dorf. Carlos findet den Weg, ohne zwischendurch an einer Stelle zu zögern. Wir haben keine fremden Zivilisationen getroffen, die noch vollkommen von der Moderne abgeschnitten sind, von denen es im Dschungel Perus noch mehr als ein Dutzend gibt. Wir sind auf eine gewisse Weise erleichtert, als wieder die erste Hütte im Sichtfeld auftaucht.
Die Stiefel und die Hose sind tiefbraun, der Schlamm hat sich in das Gewebe gesetzt, es regnet noch immer. Dass die Kleidung bei dieser Luftfeuchtigkeit trocknet, ist relativ ausgeschlossen, also verstauen wir alles in zwei großen Plastiktüten. Die Dorfbewohner bieten jetzt, da wir im Begriff sind aufzubrechen, noch etwas Kunsthandwerk an. Raul macht das Boot fertig.
Am späten Nachmittag liegt Melancholie über dem Fluss, das Wasser fließt schleppend. Die Monotonie der Uferlinie: unzählbare Bäume, hunderte Kilometer weit. Unsere Euphorie ist gewichen, die Wolken liegen grau über dem undurchdringlichen Grün.
Dieser Ort ist zu groß, zu weit, er birgt die äußere und innere Auflösung in sich. Während sich der Mensch im Gebirge, das ja ein ebenso unwirtlicher Ort sein kann, erhaben und mächtig fühlt, wird er im Dschungel ganz klein und bedeutungslos, ein Fremdkörper in einem abgeschlossenen Ökosystem. Der Urwald frisst den Menschen irgendwann auf, er verschlingt seine Seele, weil alle Referenzpunkte der eigenen Existenz abhandenkommen.
Auf der Rückfahrt nach Nauta sind wir schweigsam. Nach zwei Stunden schieben sich am Ufer die Lichter der Häuser ins Blickfeld, ab hier gibt es wieder eine Straße. Bis wir Iquitos erreichen, wird die Nacht hereingebrochen sein.
Das Naturreservat Pacaya-Samiria
Reisezeit: ..Das Klima des peruanischen Amazonastieflands ist ganzjährig tropisch, feucht und warm. Am trockensten ist es zwischen Juni und September.
Anreise: ..Mehrere Fluggesellschaften fliegen Lima mit ein oder zwei Zwischenstopps von Deutschland aus an. Weiter nach Iquitos mit dem Flugzeug, von dort mit Bus oder Taxi nach Nauta am Rand des Reservats. Das Naturschutzgebiet selbst lässt sich nur über seine Wasserwege erkunden.
Einreise: ..Touristen aus Deutschland können sich 183 Tage ohne Visum in Peru aufhalten.
Veranstalter: ..Organisierte Touren in den Dschungel lassen sich in Iquitos buchen. Möglich sind Kurztrips mit nur einer Übernachtung, Mehrtagesausflüge, aber auch ausgedehnte Expeditionen.
Übernachtung: ..In Iquitos gibt es viele Hotels und Herbergen unterschiedlicher Preisklassen. Am Rand des Naturschutzreservats bei Nauta finden Touristen mehrere Eco-Lodges. Im Schutzgebiet selbst gibt es keine kommerziellen Übernachtungsmöglichkeiten.
Geld:..In Iquitos gibt es mehrere Banken, die gängige Kreditkarten akzeptieren. 1 Euro entspricht etwa 3,4 Nuevos Soles (Stand Februar 2013).
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Antworten
fesselnd erzählt – hat mich direkt in den Dschungel versetzt. Auf das »Herz der Finsternis« stoße ich immer öfter – werde ich mir für meine nächste Reise besorgen…
Vielen Dank!
Sehr schöner Beitrag, Philipp.
Wir haben uns sehr an unseren Dschungeltrip in Bolivien erinnert gefühlt. So ein Trip ist schon was besonderes.Wart ihr etwa im Madidi-Park? Das hat für mich dieses Jahr leider nicht geklappt in Bolivien.
Toller Bericht!
Eva und ich hätten kein Augen zudrücken können bei dem Wissen, 5 Meter weiter sind 3 Spinnen und 2 Schlangen.Es war schon eine recht befremdliche Nacht in Titos Hütte…
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