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Wir alle kennen das: Es ist der erste Tag in einer neuen Stadt, einem neuen Hostel, einer neuen Gruppe, keiner kennt uns, aber alle kennen einander – und jetzt sollen wir Freunde finden. Dabei ist alles, was wir wollen ins Bett gehen und „Walking Dead“ übers kostenlose W‑LAN streamen…
… aber wenn wir jetzt ins Bett gehen und alle anderen aus, dann verlieren wir den Anschluss und bleiben für den Rest unseres Aufenthalts allein. Wir bleiben also wach, bestellen Bier, rauchen obwohl wir nicht mehr rauchen wollten, versuchen entspannt zu sein, doch je mehr wir versuchen, desto steifer werden wir. Wir stellen uns dazu – irgendwo – suchen Augenkontakt, überprüfen unsere Körperhaltung, fragen uns ob die Frisur noch sitzt, jemand erzählt einen Witz und alle lachen – wir lachen mit (genauer gesagt lachen wir ein bisschen zu laut mit unserer peinlichen Schnarch-Lache), dabei haben wir nicht mal zugehört – und plötzlich gucken uns alle an. Jemand fragt uns von der Seite:
„Você fala português?“
„Uuuhm… sorry… what?“ antworten wir auf Englisch.
„ You don’t speak Portuguese, do you?“
„Oh… erm… no… but I kind of got the joke anyway. You know, Portuguese is a Roman language after all, so it sounds kind of similar to French and Spanish… well, I don’t speak French and Spanish either, but you know, I always understand bits and pieces, you know. I’m generally really good with languages. My dad is a translator, so he’s really good with languages… well, obviously, you know. So yeah. I got the joke. Kind of.….“ sagen wir mit rotem Kopf und bemerken erst jetzt, dass die Konversation um uns herum in einer komplett anderen Sprache stattgefunden hat. Dann malen wir ein schwarzes Loch in den Boden, in das wir hüpfen und wo wir den Rest des Abends verbringen werden.
Ja, ich bin mir sicher, wir alle kennen das… Ich zumindest bin sehr vertraut mit der Situation. Seit fünf Monaten bin ich mindestens einmal wöchentlich „Die Neue“. Man sollte also meinen, ich hätte das mittlerweile drauf. Aber weit gefehlt. Ich bin ein absoluter Versager im „Neu-sein“. Ich weiß nie, was ich sagen soll, vergesse, dass ich an guten Tagen tatsächlich so was wie einen Sinn für Humor habe, habe Angst, das Zimmer zu verlassen und stelle mich grundsätzlich schlafend, wenn jemand reinkommt. Ich schiebe das Unvermeidliche – ein Gespräch – so lange heraus wie ich kann. Und meistens bin es nicht ich, die es anfängt. Meistens ist es ein Mensch, den ich den »Kontakter“ nenne.
Den Kontakter gibt es in jeder Gruppe. Er ist derjenige, der ein neues Gesicht sieht und bei dem Anblick nicht panisch die Flucht ergreift, sondern tatsächlich Lust hat, es kennenzulernen. Wir verbringen die ersten Stunden mit ihm, er stellt uns den anderen vor und sein Vertrauen in unser neues Gesicht gibt den anderen die Bestätigung, dass wir keine Irren sind. Der Kontakter wird aber nur selten unser Freund. Für ihn ist das vollkommen okay – er hat schon längst einen neuen Neuen gefunden, den er kennenlernen will. Den Kontakter zu finden, ist nicht schwierig – meistens arbeitet er sogar im Hostel. Er ist derjenige, der die Drinks spendiert, derjenige, den alle beim Namen kennen. In der Schule war er der Klassenclown, heute ist er derjenige, der die Türsteher, Taxifahrer und Tricks kennt, weil er schon viel länger hier ist als alle anderen.
Der Kontakter ist unsere Eintrittskarte. Die Show müssen wir aber alleine rocken. Wir müssen uns selbst daran erinnern, dass wir nicht mehr 15 sind, sondern 25. Wir müssen uns trauen, müssen täglich aufs Neue mutig sein und dazu bereit, uns zu öffnen, uns zu überwinden, uns auch mal zum Affen zu machen. Und es ist okay, erst mal zuzusehen, auch wenn wir uns blöd vorkommen wie wir da so in der Ecke stehen. Es ist okay, nicht zu wissen, worüber die anderen reden – verdammt, wir sind schließlich gerade erst angekommen! Es ist okay, nicht mit Blitzlichtgewitter über den roten Teppich reinzukommen, sondern heimlich, still und leise durch die Hintertür.
Wir vergessen oft, dass „neu sein“ auch „mutig sein“ bedeutet. Neu sein heißt, dass wir aus alten Verhaltensmustern ausgebrochen sind. Neu sein heißt, dass wir etwas gewagt haben. Neu sein heißt, dass wir einen Schritt weiter gegangen sind auf unserem ganz eigenen Weg. Und Scheiße – das macht Angst! Es ist verdammt hart, neu zu sein und oft genug wünschen wir uns, wir wären wieder in unserem alten Leben, denn mal ehrlich: So schlimm war das nun auch wieder nicht…
… Wirklich? Und warum sind wir dann ausgebrochen? Warum waren wir so unzufrieden? Warum haben wir uns vor gar nicht allzu langer Zeit nichts mehr gewünscht als einen Neuanfang? Herzlichen Glückwunsch, das hier ist er. Und jetzt heißt es: Arschbacken zusammenkneifen! Wir haben es bis hierher geschafft. Alles, was wir tun müssen, ist weitergehen. Jeden Tag aufs neue und einen Schritt nach dem anderen. Und irgendwann werden wir nicht mehr neu sein. Irgendwann werden wir dazugehören. Und bis es soweit ist, sollten wir versuchen uns immer wieder daran zu erinnern, dass keiner da draußen besonders viel über uns nachdenkt, uns kritisiert oder uns unter die Lupe nimmt.
Keiner. Außer uns selbst.
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Wahnsinn! Und ich hatte bisher immer den Eindruck, anderen fällt das »Neu-Sein« irgendwie leichter als mir! Beruhigend zu wissen, dass ich nicht allein auf weiter Flur bin! Danke!
Hallo, das spricht mir aus der Seele und geht glaube ich jedem mal so. Irgendwie muss man sich manchmal überwinden. Super geschrieben 🙂
Danke für diese aufrichtigen Worte, die so viele Reisende und Nicht-Reisende sicher oft denken und empfinden, aber nicht preisgeben möchten oder können…
Kontakte finden kann man nicht erzwingen, oder?. Entweder du gibst dich wie du bist oder du musst dich ewig verstellen. Man trifft ja auch viele Gleichgesinnte auf Reisen und wenn nicht, dann eben nicht…
Danke dir, Sven!
Großartiger Beitrag, der ausnahmsweise auch mal auf Nicht-Globetrotter übertragen werden kann.
Wahre Worte. Ich werde mich Ende des Jahres noch daran erinnern, wenn ich alle paar Tage der Neue bin.
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